Historisches Hofheim am Taunus

Altes für die Zukunft bewahren!

Die Beschwerde der Bürgerschaft Hofheims
gegen die Abgabe des Glockenbrotes -
eine kurmainzer Verwaltungsposse

Roswitha Schlecker


Bei dem Wort "Glockenbrot" könnte man spontan an eine Großbäckerei denken, die nicht nur diesen Namen, sondern auch eine Glocke als Firmenlogo auf jeder Verpackung führt. Als Markennamen ließ Mitte der 1930er Jahre der Offenbacher Georg Dinges "Glockenbrot" für seine bereits 1904 gegründete Brot- und Zwiebackfabrik rechtlich schützen.(1) Seine Gründe für diese Wahl sind in der offiziellen Firmengeschichte nicht überliefert. Doch Georg Dinges handelte vorausschauend, indem er sich die Rechte an Wort und Bild sicherte. Warum? Seit dem Mittelalter war es in vielen Gemeinden üblich, die Läute-Dienste des Glöckners mit dem entsprechend benannten "Glockenbrot" zu entlohnen. Folglich könnten findige Bäcker in jedem Orte ein "traditionelles Glockenbrot" anbieten - wenn da nicht Georg Dinges gewesen wäre.

Wem gehört der Kirchturm?

Hofheim St. Peter und Paul, Mai 1842 - gezeichnet von B. J. Heydmann (Historisches Museum Frankfurt am Main)

In der Regel stehen Kirche und Kirchturm in der Mitte eines historisch gewachsenen Ortes. Neben der symbolischen Bedeutung der Kirche als Zentrum der Gemeinde hat der Kirchturm außer der kirchlichen auch eine weltliche Funktion: Seine Glocken rufen zur Messe, zum Gebet und den verschiedenen religiösen Anlässen. Sie warnen aber auch vor Sturm, Schlechtwetter, Feuer und Feindannäherung. Sie geleiten mit ihrem Läuten hohen Besuch in die Stadt, unterstützen die Bekanntgabe wichtiger Ereignisse und machen die Uhrzeit für alle Einwohner hörbar und unterstützt von der Turmuhr weithin sichtbar. Aufgrund dieser den Tagesablauf strukturierenden weltlichen Seite gehörten Turm und Uhr früher der Stadtgemeinde und mussten von dieser unterhalten werden. Die Kosten für den Glöckner wurden anteilig von der Kirchen- und der Stadtgemeinde übernommen. Neben diesen zwei Arbeitgebern existierte jedoch noch ein dritter: die Hofheimer Bürgerschaft. Jeder einzelne Bürger hatte dem Glöckner dreimal im Jahr das sogenannte "Glockenbrot" zu geben.

Zur Arbeit des Glöckners in Hofheim

Besonders wichtig für den Glöckner ist ein Wohnort in der Nähe des Kirchturms (bei großen Kirchen/Dom sogar im Turm) und eine gute körperliche Konstitution für den sportlichen Teil dieser Tätigkeit: das mehrfache, tägliche Ersteigen des ca. 64 Meter hohen Turms. Nach den Hofheimer Stadtrechnungen muss der Glöckner die Turmuhr anhand des Sonnenstandes stellen und ihr Räderwerk ölen. Dafür erhält er jedes Jahr zwei Gulden.

Seine Arbeit regelt somit über Jahrhunderte hinweg den Tagesablauf der Bürger. Die Einwohner müssen sich auf ihn verlassen können und so legen sie bereits früh fest, dass eine Einstellung nach Prüfung der beruflichen Qualifikation nur durch den Schultheis und das Gericht erfolgen kann. Man kann davon ausgehen, dass der Glöckner zu Beginn der Anstellung einen Eid ablegen muss, auch wenn dieser leider im "Hofheimer Weisthum" (2) nicht mehr vorhanden ist. Neben den bereits beschriebenen Anlässen tritt der Kirchendiener mit "öffentlichem Dienst" außerdem noch bei Hochzeiten, Todesfällen, Kindstaufen, bei Kindstod (ausgiebiges Läuten), bei Begräbnissen aller Art und den Jahresgedenken (Anniversarien, z.B. für Verstorbene) akustisch in Erscheinung. Jedes zusätzliche Läuten ist natürlich auch extra zu entlohnen Bei dem selteneren "Großen Geläut" an hohen Feiertagen stehen dem Glöckner auch noch drei Helfer zur Seite, um die vier Glocken (3) zum Schwingen zu bringen.

In der Hofheimer Bürgerschaft befinden sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts einige besonders kritische Einwohner, die sehr genau darauf achten, ob der Glöckner jene Arbeitsleistungen erbringt, die es rechtfertigen, dass er dreimal jährlich (zu Ostern, Pfingsten und in der Adventszeit) von ihnen und den anderen Bürgern die ihm zustehenden "Glockenbrote" und Korngarben erhält. Die Zeiten sind hart und so manchem Einwohner scheint es verlockender, einen "Albus" zu zahlen an Stelle der Abgabe des - teureren - Brotes. Das ist der Ausgangspunkt für den nun im Folgenden beschriebenen Streit und der Beantwortung der Frage: Was hat mehr Gewicht in der Rechtsprechung? Das Geschriebene oder die überlieferte Tradition.

Die Lebensumstände im 18. Jahrhundert

Klimatisch herrscht noch die "Kleine Eiszeit", die mit Kälteeinbrüchen und Unwettern ganz Europa bis Mitte des 19. Jahrhunderts im Griff hat. Es gibt Missernten, Hungersnöte, Epidemien und immer wieder Kriegs- und Kampfhandlungen. Auch die Hofheimer können dem nicht entfliehen und die Brotabgaben fallen ihnen schwer, besonders wenn sie selbst keinen Acker haben und für teures Geld das Korn kaufen müssen. Sogar bei den im Handel befindlichen Münzen wird betrogen: Durch Manipulationen des Edelmetallanteils verlieren sie ihren eigentlichen Wert und immer mehr "schlechtes Geld" kommt in Umlauf.

Vor diesem Hintergrund fordert der neue Glöckner Peter Harpf
(5) nach altem Recht das Brot - statt eines Albus pro Brot und Bürger.

Die Chronologie des Streits

Jahreswechsel 1714/1715: Ein Amtserlass wird an einem Sonntag in der Kirche verlesen: Künftig hat jeder Bürger dem Glöckner Hans Peter Harpf, der erst vor 5/4 Jahr angestellt worden ist, anstelle des "Weißpfennigs"
(4) (entspricht in dieser Zeit einem Albus) dreimal jährlich einen Laib Brot zu geben.

Dieser Erlass führt umgehend zur Klage der Bürger vor der zuständigen Kurfürstlichen Mainzischen Kanzlei. Ihr  2 ½-seitiges Schreiben ist unterzeichnet mit „Gericht, Rath und gantze Bürgerschaft zu Hoffheimb“: Sicherlich habe man mal „aus gutem Willen“, wenn „die frücht wohlfeil waren“ [=gute Ernte] dem Klöckner ein „brödgen“ oder ein „laib brodt“ statt des Weißpfennigs gegeben, aber sie hielten und halten sich an den „claren Buchstaben unsers so Uhralten protocolls“ wonach der jetzige Glöckner mit der „Einnehmung des Weißpfennigs“ zufrieden sein müsse. Weiterhin begründen sie ihren Einspruch damit, dass die Gemeinde damals 50 Mann stark gewesen sei und es jetzt 180 (die Einwohnerzahlen variieren in den verschiedenen Schreiben) sind von denen rund 100 Haushalte keinen Ackerbau betreiben und folglich das Brot kaufen müssen. Zum Beweis ihres Einspruchs fügen sie Auszüge aus den Hofheimer Gerichtsprotokollen vom 11. Mai 1604, (22. Mai) 1612 und 1616 dem Schreiben bei. Nach den Protokollen von 1604 und 1612 soll die Entlohnung mit einem Albus schon vorher gehandhabt worden sein: Der Glöckner – wie auch der Säuhirte – erhalten gemäß alter Ordnung und weil derzeit das Korn so teuer ist, von denjenigen, die keinen Acker besitzen statt des Laib Brots 18 Denar bzw. gemäß des anderen Protokolls einen Albus. Das dritte Protokoll wird wohl nur angeführt, weil in ihm das Wort glocken laibe“ steht, denn der Inhalt betrifft vor allem das Fehlverhalten des Glöckners Andreas Lechner. Vier Bürger beschweren sich über dessen Umgang mit der "Gemeine uhren". wenn auch in einem ganz anderen Zusammenhang. Vier Bürgern beschweren sich über den Umgang des Glöckners mit der „Gemeine uhren“. Denn er gehe „sehr Unfleißig mit der uhr umb…“ und sie bitten darum, dass das Gericht den Glöckner darauf hinweise, „…daß er die uhr recht stelle, daß sich jeder Mann darnach richten könne zu Tag undt Nacht.“ Tue er dies nicht, bitten sie darum, die „glocken laibe“ einem anderen zu geben, um die „Uhr zu versehen undt recht nach der Sonne zu stelle“. Die Abschriften aus den Protokollen fertigt der Hofheimer Jacobus Christopherus Heilmann. Er ist als Stadtschreiber tätig und der Sohn des Gerichtsschreibers Johann Kaspar Heilmann. Ob er wohl die zukünftige Schreibarbeit wegen des sich abzeichnenden Streites ahnt? Seine Unterschrift verbindet er mit dem ungewöhnlichen Zusatz „p. T. polygrapha“ (= pro Tempore / zur Zeit Vervielfältiger, oder wörtlich: zur Zeit Vielschreiber].

Schreiben und Abschriften liegen nun bei Johann Adam Freiherr von Dienheim d. Ä., Oberamtmann in Höchst und Hofheim (1693 – 1720). Ihn erreichen aber auch Schriftstücke mit gegenteiligem Inhalt: Etwa die Abschrift von Pfarrer Johannes Gleidener (auch Gleidner) (1650-1680), verfasst am 28. Januar 1665. Er hat ein Jahr zuvor eigenmächtig seinen Schwager Johannes Lechner
(7) - ohne Rat, Gericht und Schultheis die Einstellung zu überlassen - als Nachfolger des „gewesenen“ Johan Schukert als Glöckner ernannt und damit gegen das „alte Herkommen“ verstoßen. Für Gleidner ist Lechner zu diesem Zeitpunkt die qualifizierteste Person vor Ort und da auch die Bezahlung jährlich von der Kirche erfolgt, sieht er sich berechtigt, den Glöckner zu ernennen, denn schließlich sei die Beteiligung der Einwohner das Jahr hindurch mit „3 laib brodt“ und von jedem Ackermann mit einer Korngarbe (den „Sichling“) wenig genug und diese Abgaben müsse der Glöckner noch selbst von Haus zu Haus „gleich einem Bettler“ einsammeln. Zwei weitere schriftliche Aussagen bezeugen die Brotgänge: Stadtschultheiß Martin Kirsten bestätigt, dass sowohl der Glöckner Andreas Lechner als auch dessen Vater Johannes Lechner 22 Jahre lang (die Dienstjahre variieren in den verschiedenen Schreiben) die drei Brotgänge erhoben haben. Er vergisst nicht zu erwähnen, dass Andreas Lechners Hausfrau sich bei ihm beschwerte habe, dass ihr liederlicher Mann statt eines Laib Brots ein „schlechtes geldt“ von vielen Bürgern annehme und dieses verschwende.

Andreas Wäppener, mit über 90 Jahren wohl ältester Bürger der Stadt und 35 Jahre als Bereiter und zehn Jahre als Schultheiß tätig, bezeugt, dass in seiner über 57-jährigen Zeit in Hofheim jeder Bürger an Weihnachten, Ostern und Pfingsten den Glöcknern Johan Schukert, Johannes Lechner und Andreas Lechner ein Brot gegeben habe.

Der „zeitliche“ Pfarrer Nikolaus Schmidt bestätigt ebenfalls die Abgabe der Brote und weiß  Schlimmes über Andreas Lechner zu berichten: „Weil er aber dem Trincken allzu sehr ergeben, solche laib verkaufft und vertruncken habe, dessentwegen sein Weib und Kinder oftmahlen mit weinenden Augen bey geistlige und weltlig Vorsteheren geklagt haben, daß der Klöckner die laib brodt verkaufft - sie aber müßten Hungerleiden…“ Aufgrund seiner Liederlichkeit sei er schließlich abgesetzt worden. Außerdem habe er falsches Zeugnis wegen des Albus (an Stelle des Brotes) abgegeben und dies auch noch aus Passion. Nicht nur das verurteilt der Pfarrer, noch mehr erzürnt ihn, dass dieser Lechner das Brot statt für einen Albus für drei, vier und fünf Albus verkauft hat – wohl zu diesem Zeitpunkt der Wert eines Brotes und für den Glöckner ein gutes Geschäft. Bei einem Albus pro Brot hätte der Gewinn bei der Bürgerschaft gelegen. Beigelegt ist noch eine Auflistung der jährlichen Einnahmen des aktuellen Glöckners Harpf ausschließlich von Seiten der Kirche: 14 Gulden und 19 Kreuzer sowie insgesamt 12 Malter Ackerfrüchte, einschließlich der Korngarben, die jeder Hofheimer zu geben hat.

30. Januar 1715: Es erfolgt aus Mainz eine Anordnung an den Oberamtmann zu Höchst und Hofheim, das Anliegen der Kläger zu klären.

22. Februar 1715: Oberamtmann von Dienheim sendet einen vierseitigen Bericht mit dem Ergebnis seiner Ermittlungen nach Mainz. Er beginnt mit dem damaligen Pfarrer Gleidener, der den Glöckner einstellte und ihm die drei Brotgänge zusicherte. Es folgt das Protokoll von 1604 an, in dem steht, dass der Glöckner für einen Laib Brot einen Albus erhalten soll, mit der Ausnahme, wenn die Bürger selbst Korn auf ihren Feldern wachsen haben, denn dann könnten sie die drei Brotgänge nicht verweigern. Von Dienheim findet es jedoch bemerkenswert, dass die Arbeit des Säuhirten den Hofheimern wohl mehr wert ist, da dieser 10 Denar erhält und der Glöckner nur acht (acht Denar = ein Albus). Für ihn eindeutig ein Hinweis auf die ehemalige lutherische Konfession der Bürger während der Stolberger Zeit, in der katholische Kirchendiener weniger angesehen waren und bis „auff die heutige Stund leiden (müssen)“. Wieder wird Andreas Lechner, der bevorzugt Geld statt Brot angenommen hat und lieber trank, als seinen Dienst abzuleisten, angeführt und die Liste seiner Liederlichkeiten ergänzt. Er hat die mit großen Kosten angeschaffte Stund- und Viertelstund-Uhr in kurzer Zeit - wie übrigens auch die Vorgängeruhr - zu Grunde gerichtet und weitere grobe Fehler begangen, was schließlich zur Entlassung geführt hat. Die Berufung der Hofheimer auf ihr altes „buchstäbliche[s] Weisthum“ (6) hält von Dienheim für nicht beweiskräftig. Schließlich hätten sie es ohne Befehl zu ihrer eigenen Legitimation geschrieben und verführen damit, wie es ihnen gefällt. Somit schlägt er vor, dass die Hofheimer die Brotgänge bei dem "zeitlichen" Glöckner fortführen sollen, schließlich bleibt ja die alte Ordnung in Kraft, auch wenn die Frucht zur Zeit teurer ist als sie erzeugt werden kann und diejenige ohne Acker den Laib Brot mit zehn Denar (mehr als ein Albus) bezahlen. Man sollte den jetzigen Glöckner, der sich nichts zu Schulden kommen lasse, von Amts wegen unterstützen.

25. Februar 1715: Die kurfürstliche Kanzlei in Mainz bestätigt, dass der Bericht vom 22. Februar einschließlich der Anlagen verlesen wurde, und verfügt, dass von Dienheim künftig darauf zu achten habe, dass der Glöckner das Brot entweder in Natura erhält oder der zeitliche Wert gezahlt wird.

Ohne Datum: Glöckner Harpf gibt nicht auf. In einem Schreiben an die Mainzer besteht er weiter auf der Abgabe der Brote. Schließlich verrichte er unermüdlich als ehrlicher Mann Tag und Nacht seine beschwerliche Arbeit. Rat und Bürgerschaft von Hofheim sollen ihm endlich die Brotgänge, die schon "bey manns gedencken von ihnen gereicht worden", zugestehen.

4. April 1715: Anscheinend erfolgt auch eine Beschwerde der Hofheimer, denn die Mainzer Kanzlei rollt den Fall wieder auf.

ohne Datum: Die Bürgerschaft verfasst eine vierseitige Klageschrift, in der man sich diesmal sogar auf Gerichtsprotokolle aus den Jahren 1580, Mai 1693, Oktober 1694 und Mai 1695 (8) bezieht - ein Großauftrag für Stadtschreiber Heilmann. Die Bürgerschaft besteht weiterhin darauf, dass das Brot den Glöcknern niemals in Natura gegeben worden sei, sondern der angegebene Albus. Glöckner Andreas Lochner habe in den 23 Jahren zuweilen sogar nur ein "Laiblein" Brot bekommen. Bei Beschwerden an den Gerichtstagen werde jedes Mal festgehalten, dass sie nur den Albus schuldig seien. Auch Pfarrer Gleidener habe "auf der Canzel" die Bürgerschaft, damals gerade 40 Personen, darum gebeten, die Brotgänge als eine freiwillige Gabe zu betrachten. Bei schlechter Ernte bestelle man das Brot bei dem Bäcker, allerdings nur die Hälfte oder ein Viertel des Gewichtes. Viele zahlen aber auch den Albus. Nach Rechnung der Bürgerschaft verdiene der Glöckner außerdem wesentlich mehr. Eingerechnet des kirchlichen Anteils sind es 36 Gulden und mindestens 19 Malter Früchte. (Damit hätte er das Jahresgehalt von vier Nachtwächtern!) Spitzfindig wird abschließend darauf verwiesen, dass es im Ort viele gebe, darunter auch Musikanten, die gerne den Glockendienst übernehmen würden.

Ohne Datum und Unterschrift: In dem Vorgang findet sich nun eine "Relatio in puncto strittiger Klöckners Kompetenz zu Hoffheimb". Mit juristischer Akribie hat ein Gutachter - namentlich nicht bekannt - den Fall untersucht. Da das Ergebnis pro Bürgerschaft ausfällt, ist es vermutlich die Arbeit des von dieser beauftragten Advokaten, der für seine Dienste später 70 fl (Gulden) verlangen wird. Auch er zieht die 200 Jahre alten Protokolle heran, nach denen der Glöckner neben anderen Zuwendungen einen Weißpfennig jährlich von jedem Bürger bezieht. Dagegen steht der Befehl vom Amt Höchst, dass jeder Bürger dem aktuellen Glöckner Peter Harpf dreimal im Jahr einen Laib Brot innerhalb von zwölf Tagen zu zahlen hat. Bisher hatten einige Bürger, wenn die Ernte gut, aber das Geld knapp war, freiwillig ein "Weißpfennig-Brötgen" oder eine Laib Brot gegeben und die Glöckner waren immer mit dem gewöhnlichen Weißpfennig zufrieden. Außerdem hat die Stadt nicht mehr 40, sondern 150 Bürger. Darunter sind etwa 100 die kein "brodt wachsen hetten". Nach Wiederholung aller bereits bekannten Protokolle und Aussagen kommt er zu folgendem Ergebnis: Da die Vorgänger mit dem Weißpfennig zufrieden waren und die Stadt über 40 Jahre nicht mehr gegeben habe, der Glöckner 36 Gulden im Jahr einnimmt und außerdem noch 16 Malter Korn sowie 3 Malter Gerste erhält, wird eine Kommission vorgeschlagen, in der es zu einer zweiten Rechtsprechung kommt. Diese muss der Glöckner akzeptieren, weil er von Stadt und Amt angestellt wurde und nicht vom Vicariat, wie es anderswo geschieht. Der Gutachter schließt mit den Worten "Salo meliori" (Mit Vorbehalt eines besseren Urteils).

16. Mai 1715: Die Kurmainzer Kanzlei gibt die ganze Angelegenheit zur Überprüfung an den Oberamtmann zu Höchst und den Keller zu Hofheim, nicht ohne anzumerken: "... absonderlich aber, waß ein laib Brod, wie bey jedem Gang der jetzige Klöckner prätendiert (fordert), ein Gewicht haben mag..."

Eine Woche nach Pfingsten (9.-10. Juni 1715): Glöckner Harpf bleibt standhaft und fordert die Brote erneut. Wieder klagt die Bürgerschaft und hofft, "... das man disseits dermahlige Endschaft gern sehen mögte".

20. Juni 1715: Keller Johann Adam Kreydt, ein erfahrener Beamter und mit Unterbrechung seit 1661 in Hofheim im Amt, greift zur Feder. Nach seiner Ansicht haben die Bürger das aus den Protokollen herausgezogen, was ihnen "in den Kram passt" und das andere ausgelassen. Auch er bestätigt, dass in den Jahren des "Lutherismus" die katholischen Kirchendiener im Ort wenig Beachtung gefunden und die jetzigen mutwilligen Kläger gemäß ihrer "buchstaben" wenig für sie erübrigten haben. Ebenso sei genugsam bekannt, wenn auch nicht bewiesen, dass der abgesetzte Glöckner (Andreas Lechner) den Opferstock beraubt und sonstige strafbare Gewohnheiten gehabt haben soll. Kreydt hält zudem die Aussage von dem 90-jährigen Schultheis Weppner (Wäppener) für nicht beachtenswert. Schließlich seinen in den Nachbarorten die Brotgänge genauso üblich. Außerdem haben die mutwilligen Kläger in einer vom Amt untersuchten Sache nichts zu suchen. Er schließt mit der Bemerkung "...dergestalt aber lebet man den Bauern zum Spott".

Unterstellt Kreydt den Hofheimer Bürgern, dass sie die kurfürstlichen Beamten nicht ernst nehmen?

22. Juni 1715: Die Kurmainzer Kanzlei fordert wiederholt einen Bericht vom Oberamtmann zu Höchst und den Keller zu Hofheim an. Anscheinend ist Kreydts Antwort noch nicht eingetroffen.

7. August 1715: Die Kanzlei erinnert ungehalten - man meint es dem Schriftbild anzusehen - an den mit Schreiben vom 22. Juni wiederholt geforderten Bericht.

14. August 1715: Oberamtmann von Dienheim antwortet, dass es sehr schwer falle den Bericht zu erstellen, denn: Es gibt nichts Neues. Trotzdem sei dieser am 20. Juli zur Post gegeben worden. Er wartet nun "was selbige (die Kurmainzer Kanzlei) hierin zu verordnen geruhen werden, die wir in schuldigstem respect verharren". Auch seine Geduld ist anscheinend begrenzt - eine Entscheidung muss erfolgen.

Ebenso werden die Bürger von Hofheim ungeduldig und richten ein Schreiben an die kurfürstliche Regierung. Da sie doch bereits mehrmals die angeforderten Berichte abgegeben haben und geraume Zeit vergangen ist, erwarten sie nun eine Entscheidung gemäß ihrer Überzeugung, dass man ihre aufgehobenen alten Gerichtsprotokolle, in denen die Entscheidungen des Ortes aufgeschrieben sind, "so schlechter ding nit übern Hauff zu werffen vermag" und der Glöckner pro Gang einen Albus bekommt und nach Adveniat (Weihnachtszeit) ein Leiblein Brot. Voll "tröstlicher Zuversicht" erwarten sie ein "gnädiges Conclusum (Beschluss)" in der "so lang andauernden sach".

13. September 1715: Die Kurmainzer Kanzlei fällt eine Entscheidung im Sinne der Bürgerschaft und teilt diese dem Oberamtmann zu Höchst und dem Keller zwecks Weitergabe mit: Es bleibe bei der hergebrachten alten Gewohnheit der Bürgerschaft und zukünftig gebe jeder Bürger, so viele es sein mögen, für jeden Brotgang nicht mehr als einen Albus oder ein "Brötgen" im Werte eines Weißpfennigs. Der Glöckner soll damit zufrieden sein.

31. März 1716: Gegen diese Entscheidung erhebt der Kirchen-, Sakristei- und Glockendienst zu Hofheim Einspruch. Zwar respektiere man die gnädige Verordnung, aber mit dem Schreiben des Klägers (die Hofheimer Bürgerschaft), auf die sich die hochlöbliche Regierung bezieht, sei sie hintergangen worden. Das Schreiben sei von Anfang bis zum Ende unwahr, mit falschen Zeugnissen angefüllt und nicht aus Eifer zur Wahrheit und Gerechtigkeit entstanden, sondern aus besonderem Hass einiger Bürger, die zusammen im Wirtshaus saßen und es einem bezahlten Advokaten eingegeben haben. Der Glockendienst bittet, den falschen Sachverhalt unparteiisch in Hofheim untersuchen zu lassen, denn man könne es mit frommen Bürgern, Beamten, Pfarrern und Protokollen, schriftlichen und mündlichen Attesten widerlegen. Unwahr seien auch die Protokollauszüge, denn das wahre Dokument sei in betrügerischer Absicht ausgelassen worden. Wo befindet sich dieses bis unbekannte "wahre Dokument"?

Unwahr sei weiterhin, dass (im Auszug):

  • halbe oder viertel Brot gegeben worden seien,
  • dass erst nach Einführung der katholischen Religion ein Albus für ein Brot verordnet worden sei,
  • dass der Glöckner seit neuestem das Brot begehre, sondern er begehre es nach 100-jähriger Überlieferung. Der Glöckner (Andreas Lechner) habe weder getrunken noch falsches Zeugnis abgelegt. Pfarrer Gleidener habe nicht um das Brot gebeten, vielmehr seien die Bürger es dem Glöckner schuldig gewesen. Der Glöckner verdient keine 36 Gulden im Jahr sondern nur 13 (9) und er erhält keine 22 Malter Früchte. Unterzeichnet ist das Schreiben - ohne Namensnennung - vom Kirchen-, Sakristei-  und Glockendienst.

24. Mai 1716: Im Namen des Gotteshauses zu Hofheim "für Ihren Custos Sacristey  und Glockendienst" wird erneut um eine unparteiische Untersuchung gebeten, um "... den so theuer verdienten laib-brodt gnädig zu erhalten, wie dan in allen stätt und dörfern in dem Erzstift die Kirchen diener solches brodt genießen. Im Nahmen des Gotteshauses zu Hofheimb..." Der unbekannte Verfasser des Schreibens versäumt nicht, darauf hinzuweisen, dass die 70 Gulden für den Advokaten nicht von der Bürgerschaft bezahlt worden, vielmehr habe man sie auf die Bürgermeisterrechnung gesetzt. (10)

12. Juni 1716: Oberamtmann von Dienheim verlangt nun von den Klägern, noch einmal alle Belege zur Prüfung herbeizuschaffen, gleichzeitig teilt er der Mainzer Kanzlei mit, dass eigentlich schon alles berichtet wurde und der Bürgerschaft wegen dieser Sache bereits 70 Gulden Unkosten entstanden sind und noch 50 Gulden aufgenommen wurden, die man sich ersparen könne, beruhe doch alles auf der befehlenden Verordnung aus Mainz.

26. Mai 1716: Die Mainzer Kanzlei beauftragt von Dienheim, den Klägern mitzuteilen, falls sie noch Schwerwiegendes vorzulegen hätten dieses einzubringen, damit Recht verfügt werden könne. Beginnt jetzt der Streitfall von neuem?

Mitten im Vorgang findet sich eine Stellungnahme des damaligen Pfarrers Nikolaus Schmidt, die anhand der zeitlichen Angaben auf den Beginn des Jahres 1717 datiert werden muss. Schmidt bezieht sich zweimal auf "dies letzte Jahr 1716". Anscheinend wurde in diesem Jahr kein Glockenbrot ausgegeben und Pfarrer Schmidt sieht sich genötigt noch einmal das Thema aufzugreifen und breitet den Inhalt des Schreibens vom 31. März 1716 erneut aus. Er beginnt - wie sollt es anders sein - mit den Gerichtsprotokollen. Es folgen - wie bereits bekannt - die Aussagen von Stadtschultheiß Kirsten und dem ältesten Hofheimer Bürger Wepper (Wäppener). Zu den bekannten drei Glöcknern kommt jetzt noch ein vierter, Henrich Schnell, hinzu. Natürlich hätten alle das Brot bekommen, was die ganze Bürgerschaft bezeugen könne. Auch die Ausgleichszahlung für ein Brot ist bei ihm deutlich höher, statt 10 Denaren (von ursprünglich acht = ein Albus) sind es auf einmal 18. Alle Behauptungen der Kläger seien unwahr (siehe Schreiben vom 31. März 1716) und weder ein geistliches noch ein weltliches Gericht habe das Brot für den Glockendienst durch ein Urteil abgesprochen.

Zum Abschluss


Das 68 Seiten umfassende Aktenbündel "Beschwerde der Bürgerschaft in Hofheim gegen die Abgabe eines Laibs Glockenbrot an den dortigen Glöckner statt wie bisher eines Albus, (1604-1665) 1715-1716" (Abt. 106-1095) befindet sich im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden. Wie der Glockenbrot-Streit letztlich ausging, ist unbekannt. Es bleiben aber auch andere Fragen unbeantwortet: Was haben die Glöckner mit den vielen Broten gemacht? Sie teuer verkauft wie jener Andreas Lechner? 1923 gab die Stadt den Kirchturm an die katholische Kirchengemeinde ab und damit auch alle Unterhaltskosten. Zuvor bezahlte sie jedoch das neue Turmdach in Zwiebelform. Erst 1958 erübrigte sich in Hofheim der Aufstieg, denn ab da konnte endlich die Uhr - die Glocken bereits ab 1955 - elektrisch betrieben werden.

 



Anmerkungen
(1) Die Großbäckerei hat jetzt ihren Sitz in Frankfurt-Fechenheim und ist Mitglied der REWE-Gruppe.

(2) mittelalterliche Hofheimer Rechtsquelle aus dem 15. Jahrhundert.
(3) HZ 1. Juli 1955: Die älteste Glocke, die große d-Glocke, wurde anno 1512 auf den Namen "Maria" gegossen und 1872 umgegossen von Ph. H. Bach zu Windecken für Hofheim. Vor 1914 hatte Hofheim vier Glocken (nämlich d - f - g - a). F - g - a wurden abmontiert und kamen nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr zurück. Kurz nach 1918 kam eine Stahlglocke dazu, diese wurde 1924 durch zwei Glocken ergänzt. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Glocken 1942 abmontiert und nur die Stahlglocke blieb übrig. Die d-Glocke und das Dachreiterglöckchen kamen jedoch 1947 zurück. Das neue Geläut gibt es seit 1955. Statt der Stahlglocke kommt eine Bronzeglocke in f, die Josefsglocke, dann eine Glocke in b (Bonifatius geweiht) und eine e-Glocke (dem Diözesanpatron St. Georg geweiht). Mit der e-Glocke wurde das Geläut (Juli 1955) elektrifiziert.
(4) Weißpfennig = Denarius albus = Albus=silberne Groschenmünze).
(5) in der Akte 106-1095 finden sich ebenso die Schreibweisen "Harptf" und "Harpff".
(6) siehe 2.
(7) In der Pfarrchronik von St. Peter und Paul ist die Schreibweise der Namen beider Glöckner etwas anders. Die Personen sind aber identisch: Johan Schuckert = Johannes Schuchardt, lt. Pfarrchronik, Johann Lechner = Johannes Leychner.
(8) Als einziges ist das Protokoll von 1695 erhalten geblieben, StadtAHofh. Sign. 10.04.02.
(9) Nach den Stadtrechnungen erhält der Glöckner in den Jahren vor und nach 1715 jährlich zwei Gulden.
(10) 70 Gulden sind in den Stadtrechnungen weder für das Jahr 1715, 1716 noch 1717 nachweisbar.

 

 


Der Bericht wurde in „Zwischen Main und Taunus – Jahrbuch des Main-Taunus-Kreises, 2018, 26. Jahrgang, Seite 87-93“ veröffentlicht. Mit freundlicher Genehmigung des Main-Taunus-Kreises und der Autorin erfolgt diese Präsentation.


Bearbeitung: Historischer Arbeitskreis Hofheim (Wilfried Wohmann)

 

Start


zurück


oben




Instagram