Historisches Hofheim am Taunus

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Der Kapellenberg während der Jungsteinzeit

Detlef Gronenborn

Wir wissen heute, dass die auf dem Kapellenberg sichtbaren Relikte der Wallanlage, aber auch die weitgehend unter Laub und im Boden verborgenen archäologischen Reste einer flächendeckenden Besiedlung des Plateaus, zur sogenannten Michelsberger Kultur gehören. Diese fällt in die mitteleuropäische Jungsteinzeit (oder Neolithikum, griech. neo- neu, lithos – Stein), eine Epoche, in der sich die bäuerlichen Gemeinschaften zu ersten komplexen und vielschichtigen Gesellschaften entwickelten.

Die Michelsberger Kultur

Die Michelsberger Kultur beginnt um 4400 v. Chr. und endet im Rhein-Main-Gebiet wohl um 3500 v. Chr. Ihre Ursprünge liegen in einem Kerngebiet zwischen dem Pariser Becken, den westlichen Ardennen, dem Neuwieder Becken und der westlichen Kölner Bucht. Aus dieser Region breitete sich die Michelsberger Kultur aus und erreichte fast das Bodenseegebiet, Mittelfranken, das westliche Mittelelbe-Saale-Gebiet, das Braunschweiger Land und Münsterland sowie die Niederlande und Belgien (Abb. 1).

Die Michelsberger Kultur war aber auch über ihr eigentliches Verbreitungsgebiet hinaus einflussreich: Ab 4000 v. Chr. erreichten die ersten Bauerngemeinschaften Schleswig-Holstein und Südskandinavien sowie die britischen Inseln - Hintergrund dieser für die Geschichte Europas so wichtigen Expansion scheint die Ausbreitung der Michelsberger Kultur gewesen zu sein.

Abb. 1: Verbreitungskarte der Michelsberger Kultur und anderer, gleichzeitiger Kulturen im gemäßigt klimatischen Europa

Mit der Expansion verlagerte sich der kulturelle und möglicherweise auch wirtschaftliche Schwerpunkt der Michelsberger Kultur in das Neuwieder Becken, aber auch in das Rhein-Main-Gebiet (Abb. 2). Hier finden sich die größten Siedlungen, mit aufwendigen Umwehrungen. Die weitaus eindrucksvollste war einst Urmitz, direkt am Rhein gelegen (Abb. 3). Diese Siedlung umfasste etwa 100 ha und wurde durch gewaltige Gräben und mächtige Palisaden mit Bastionen geschützt.

Abb. 2: Die Michelsberger Kultur mit den wichtigsten Fundplätzen im Rhein-Main-Gebiet (Gronenborn / Richter 2010)

Leider ist sie nur in wenigen Bereichen ergraben worden und das Gelände, heute dominiert von der stillgelegten Kernenergieanlage Mühlheim-Kärlich, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vollkommen abgetragen: Die Bimsschicht, Überrest eines gewaltigen Ausbruchs des Laacher-See-Vulkans am Ende der letzten Eiszeit, lieferte Baumaterial für den Wiederaufbau. Archäologische Untersuchungen in diesem Areal sind heute nicht mehr möglich.

Im Rhein-Main-Gebiet liegen zwei weitere, möglicherweise sehr große Siedlungen: Schierstein in Wiesbaden und der Glauberg in der östlichen Wetterau. Die steinzeitliche Siedlung von Schierstein ist heute vom Ortskern überbaut.

Abb. 3: Rekonstruktion der Siedlung Urmitz am Rhein (Verändert nach J. Probst 1991)

Der Glauberg wurde während der ausgehenden Bronzezeit, der Eisenzeit und dem Mittelalter so stark überprägt, dass die Schichten der Michelsberger Kultur nur in einigen Randbereichen des Plateaus erhalten sind. Lediglich der Kapellenberg wurde nach der Besiedlung im vierten Jahrtausend nie mehr bebaut oder landwirtschaftlich genutzt. Er bildet für das Verständnis dieser großen Siedlungen aus der Jungsteinzeit ein unschätzbares Archiv. 

Abb. 4: Verbreitung von Jade- und Kupferbeilen in Europa (Pétréquin /Cassen / Klassen 2010)

Viele der größeren Siedlungen lagen offensichtlich entlang von Altwegen, die freilich mit Sicherheit erst aus jüngerer Zeit belegt sind. Dennoch spricht die Topografie auch für die Existenz solcher Wege an genau diesen Stellen, auch in früherer Zeit. Wagen kommen im Neolithikum erst ab 3500 v. Chr. auf und haben zur Michelsberger Zeit daher nicht als Transportmittel dienen können. Jedoch zeigt auch die Lage von Urmitz und Schierstein am Rheinufer, nicht unweit der Mündung weiterer großer Flüsse wie Mosel und Main, dass der Transport über Wasser wichtig gewesen sein muss. Über Land wurden die Güter möglicherweise von Menschen oder auch Lastochsen bewegt, entlang von Wegen, die offensichtlich bis in die Neuzeit begangen wurden.

Was wurde transportiert und wohin? Zunächst ist bekannt, dass die typischen Alltagsrohstoffe der Steinzeit – die bekannten Feuersteine – über oft erhebliche Distanzen gebracht wurden. Steinbeile und andere Werkzeuge, von den Feuersteinvorkommen um Maastricht stammend, gelangten bis ins Rhein-Main-Gebiet und darüber hinaus. Seit einigen Jahren ist auch bekannt, dass die Jadeit-Beile im gesamten westlichen Europa aus nur zwei Vorkommen im Westalpenraum stammen (Abb. 4). Eines dieser Beile wurde am Kapellenberg um 1890 beim Wegeausbau gefunden (Abb. 5).

Abb. 5: Jadebeil vom Kapellenberg (Foto R. Müller, RGZM)

Abb. 6: Beilhortfunde und Salzquellen (verändert nach Weller 2002)

Weitaus weniger wissen wir über möglichen Salzhandel. Den Hinweis dazu gibt eine Kartierung von Depotfunden von Jadebeilklingen und Salzvorkommen in unserem Raum (Abb. 6): Da sich beide Phänomene überlagern, und zudem mit den großen Siedlungen entlang der Altwagen in einem Bezug stehen, scheint es durchaus statthaft, einen Salzhandel aus dem hessischen Raum und wahrscheinlich auch Mitteldeutschland in Richtung Frankreich zu postulieren. Salzabbau und die Verarbeitung von Salz in transportfähige Rohstücke ist archäologisch nur mit großem Aufwand festzustellen – das ist in unserem Raum für diese frühen Phasen bislang nicht unternommen worden. Bekannt ist freilich die eisenzeitliche Nutzung der Salzquellen von Bad Nauheim.

Abb. 7: Emmer (oben) und Nacktweizen (unten) vom Kapellenberg 

(Gronenborn u. a. 2010; Fotos: F. Gehner, A. Kreuz, hessenARCHÄOLOGIE)

Fernwege mögen auch als Viehdriften genutzt worden sein, das zumindest wurde für das Braunschweiger Land vorgeschlagen. Tatsächlich wird immer wieder erwogen, dass die Rinderzucht eine große wirtschaftliche Bedeutung während der Michelsberger Kultur gehabt haben könnte. Ansonsten waren es bäuerliche Gemeinschaften, die Getreide anbauten: archäobotanisch nachgewiesen sind Nacktgerste, Einkorn und Emmer, sowie Nacktweizen (Abb. 7), weit seltener finden sich hingegen Erbse und Linse. Wildpflanzen- und Unkrautfunde sind – nicht nur am Kapellenberg – recht spärlich und Haselnuss ist die einzige regelmäßiger vorhandene Sammelpflanze. Wildapfel, Schlehe, Brombeere, Himbeere und Holunder treten vereinzelt auf. Die Bauern der Michelsberger Kultur gingen einem im Vergleich zu den vorherigen Epochen vereinfachten Landwirtschaftssystem nach. Diskutiert wird auch eine Art des extensiven Brandrodungsfeldbaus, bei dem die Felder nach kürzerer Nutzungszeit verlagert wurden.

Neben den großen und mittleren umwehrten Siedlungen gab es auch zahlreiche kleine Dörfer und Weiler, die sich archäologisch ungleich schwerer fassen lassen. Oft sind nur ein paar Speichergruben überliefert, denn die Häuser waren leicht gebaut und hinterließen kaum tiefe Spuren, welche die Jahrtausende hätten überdauern können. Sie haben sich nur in Gunstlagen erhalten, so etwa am Wannkopf in der Wetterau oder in einem bislang bekannten Grundriss auf dem Kapellenberg (Abb. 8).

Abb. 8: Grundriss des Hauses am Kapellenberg und dreidimensionale Rekonstruktion (Aufzeichnungen R. Kubon; Bingenheimer 2012)

Sehr wenig wissen wir bislang auch über die Menschen jener Zeit, denn sie haben ihre Toten nicht in tiefen Körpergräbern bestattet. Skelette aus der Michelsberger Zeit sind im wesentlichen aus dem südwestdeutschen Raum bekannt. Dort fanden sich viele in den Gräben von Erdwerken, oft gar nicht einmal mehr in einem anatomischen Zusammenhang, sondern als Teilskelette regellos verteilt. Die Schädel, aber auch andere Skelettbestandteile, zeigen gelegentlich Spuren von Gewalt. Nur in Ausnahmefällen liegen aus den Gräben komplette Bestattungen vor. Wie diese Lagen zu interpretieren sind, ist eigentlich unklar. Möglicherweise aber handelt es sich nicht um die Normalbevölkerung, sondern um Personen, die bereits zu Lebzeiten an den Rand der Gesellschaft geraten waren oder überhaupt keine Rechtsstellung mehr genossen hatten, wie Kriegsgefangene oder Sklaven. Tatsächlich sind aus ethnografischem Zusammenhang immer wieder Sklaven und Kriegsgefangene aus vergleichbaren Gesellschaften bekannt geworden.

Noch weniger wissen wir allerdings von der Normalbevölkerung und recht wenig auch von den zu vermutenden Eliten. Zu letzteren sind in Frankreich im Aisne-Tal einige aufwendige Gräber aus der Anfangszeit der Michelsberger Kultur bekannt geworden (Abb. 9), in unserer Region fehlen bislang die Hinweise auf solche mächtigen Grabanlagen noch.

Abb. 9: Michelsbergzeitliche Grabanlage aus Beaurieux (nach Colas u. a. 2007)

Insgesamt sind also Hinweise auf die sozio-politische Struktur in der Michelsberger Zeit sehr gering. Das dreigestaffelte Siedlungssystem mit unbefestigten Weilern und Dörfern, mit befestigten Siedlungen von etwa 20 bis 30 ha Größe und letztlich den gewaltigen Anlagen über 70 ha, mit vielleicht Tausenden von Bewohnern, spricht eigentlich für eine hochkomplexe Gesellschaftsordnung.

Vergleichbare Gesellschaften haben etwa in Nordamerika zum Beginn der europäischen Expansion gelebt: Sie waren streng hierarchisch gegliedert und wurden von mächtigen Eliten geführt, von denen einige auch historisch bekannt sind (Abb. 10).

Abb. 10: Kriegszug des Häuptlings Holata Outina in Florida (De Bry 1591)

Weil aber Gräber kaum gefunden sind, bleiben wir für unsere Interpretationen nur auf die Siedlungsarchäologie angewiesen. Auch sind bislang keine sicheren Bauwerke nachgewiesen, in denen die Eliten hätten leben oder die als zentraler Versammlungsort hätten dienen können. Es bleiben die möglichen, aber eben nicht sicheren, Hinweise auf Sklaven und/oder Kriegsgefangene, die dann eben auch Herren vermuten lassen. Diese zu suchen, wird eine der zukünftigen Aufgaben der Archäologie der Michelsberger Kultur sein.

Der Kapellenberg – ein Pompeji der Steinzeit im Rhein-Main-Gebiet

Dass auf dem Kapellenberg einst eine michelsbergzeitliche Höhensiedlung existiert hatte, ist schon seit langer Zeit bekannt. Im Grunde war es Carl August von Cohausen, der dort vorgeschichtliche Keramik aufgefunden und diese dann später mit Scherben vom Michaelsberg bei Karlsruhe verglichen hatte. Aber erst Dietwulf Baatz erkannte die Ausdehnung des Siedlungsgeländes, welches sich über das ganze Plateau zwischen Nordwall und römischem Wachturm hinzog. Mit der unermüdlichen, jahrzehntelangen Sammlungstätigkeit von Rolf Kubon und Günter Rühl wurde es schließlich deutlich, dass die Siedlung während der Steinzeit innerhalb der Wallanlage sich wirklich über fast das gesamte Plateau hinzog. Es war auch Rolf Kubon, der immer wieder auf eine mögliche Verbindung zwischen den Wällen und der jungsteinzeitlichen Siedlung hingewiesen hatte. Dies wurde allerdings von vielen Fachwissenschaftlern abgelehnt, zu gut erhalten schienen Wall und Graben zu sein. Fritz-Rudolf Herrmann etwa, ehemaliger Landeskonservator, schlug eine frühmittelalterliche Datierung vor.

Letztlich auf Anregung von Rolf Kubon wurde dann im Jahr 2008 der große Wallschnitt im nördlichen Abschnitt angelegt (Abb. 11), der einmal die ungeheure Mächtigkeit der Anlage vor Augen führte, dann aber auch die zeitliche Tiefe der Errichtung des Walles belegte.

Abb. 11: Profil des Wallschnittes 2008 (Richter / Gronenborn / Recker 2009)

Schon während der Grabung wurde anhand des Keramikmaterials zunehmend deutlich, dass zumindest die unteren Schichtpakete an dieser Stelle nur michelsbergzeitlich sein konnten. Zwei Brandhorizonte wurden erkannt, in denen zwar zerstörte aber gut erhaltene Gefäße der Michelsberger Kultur lagen. Wären bei einer späteren Errichtung des Walles nur Scherben von der ehemaligen Oberfläche in die Wallschüttung gelangt, hätten diese stärker fragmentiert und auch abgerollt sein müssen. Hier haben einst Gefäße gestanden, die beim Brand einer Palisade zerstört worden sind. Gänzliche Klärung brachten schließlich die 14C-Messungen, die auf eine wenigstens zweiphasige Errichtung des unteren Wallabschnittes hindeuteten. Die erste Bauphase fällt in die Zeit zwischen 4200 und 4100 v. Chr. Es wurde zunächst nur ein Gräbchen ausgehoben, das sehr wahrscheinlich das Fundament für eine Palisade war. Von dieser blieb nach der Zerstörung nur eine Brandschicht zurück, die aber zeigt, dass diese Palisade zumindest an der Stelle nicht besonders mächtig war, vielleicht war es nur ein Zaun aus Flechtwerk, der in bestimmten Abständen von Pfosten gehalten wurde. Die Höhe hätte etwa 2,50 m betragen können. Nach diesem Brandereignis wurde in einem Abstand von etwa 300 Jahren wiederum ein Wall aufgeschüttet, der ebenso eine Palisade trug. Auch diese fiel einem Brand zum Opfer und stürzte in die Innenfläche. Danach erfolgte eine weitere, diesmal weitaus mächtigere Aufschüttung, die heute noch die Wallkrone bildet. Von dieser ist die ehemalige Oberfläche nicht erhalten. Der Errichtungszeitraum dieser letzten Aufschüttung ist unklar, eine Schicht mit Humusbildung über der Brandschicht deutet aber auf einen möglicherweise längeren Hiatus in den Wallaufbauphasen.

Es ist daher keinesfalls auszuschließen, dass diese letzte Wallphase nach der Michelsberger Kultur in das Spätneolithikum datiert. Mit Abschluss dieser ersten Grabungskampagne war nun aber klar, dass zumindest dieser Wallabschnitt vollständig in die Jungsteinzeit datiert. Somit zählt der Kapellenberg ab nun zu den am besten erhaltenen großflächigen Fundstellen aus jeder Epoche – ein Pompeji der Steinzeit im Rhein-Main-Gebiet.

Im Sommer 2009 wurde dann im Vorfeld des Schnittes von 2008 der Vorwall untersucht. Leider kam in dieser, außerhalb der ehemaligen Siedlung gelegenen, Aufschüttung keinerlei archäologisches Material zum Vorschein und auch keinerlei Holzkohle, die wenigstens 14C-Messungen ermöglicht hätte. Aber anhand des Aufbaus wurde klar, dass es sich hier um eine einphasige Aktivität handelt. Da der Raum zwischen den Wällen vermutlich aufgrund von Erosion ausgeräumt war, konnte der Vorwall nicht mit einer der Wallphasen des Hauptwalles verbunden werden, so dass wir nicht wissen, wie beide zusammenzufügen sind bzw. zu welcher Phase des Hauptwalles der Vorwall errichtet wurde.

Im Jahr 2012 wurde dann am westlichen Abhang im Bereich eines Walldurchbruchs ein weiteres Profil angelegt (Abb. 12). Wiederum konnten drei Phasen festgestellt werden: eine erste mit einem Palisadengräbchen, dann eine Aufschüttung mit einem weiteren Palisadengräbchen und schließlich eine letzte Aufschüttung von der allerdings die Wallkrone wiederum aberodiert ist. Wie an der Nordseite, bestand die erste Befestigung lediglich aus einer in einen Graben eingelassenen Palisade, lediglich bei der zweiten Phase wurde Erdmaterial aufgeschüttet und nur während der letzten Wallphase kam es schließlich zu einer massiven Aufschüttung. Trotz des mehr oder weniger gleichen Bauschemas waren die Phasen jedoch nach den 14C-Daten nicht gleichzeitig, denn diese Stelle des Walles wurde wohl erst nach 3700 v. Chr. befestigt. Bei genauer Betrachtung des Planes erklärt sich das mit einer Erweiterung eines älteren, inneren Walles. Dieser ist tatsächlich am Südende des Sporns noch gut erhalten und im Gelände sichtbar, an der westlichen Flanke nach Norden hin jedoch weitgehend erodiert, vielleicht wurde er dort auch im Zuge der Erweiterung eingeebnet.

Abb. 12: Profil des Wallschnittes 2012 mit Wallrekonstruktion (nach Feth u. a. im Druck)

Es scheint also, dass die Befestigung am Kapellenberg zunächst zwischen 4200 und 4100 v. Chr. um das Plateau errichtet und dann nach 3700 v. Chr. an der westlichen Rückenflanke erweitert wurde, als man wiederum den Nordwall neu befestigte. Ganz am Ende der Michelsberger Zeit, oder vielleicht auch danach, wurde der Wall an beiden Stellen noch einmal massiv aufgeschüttet. Aus dieser letzten Phase ist im Profil 2012 auch noch eine Stelle mit der ursprünglichen Wallhangneigung erhalten, so dass eine Rekonstruktion dieser letzten Phase möglich ist. Eine Pfostenspur aus der zweiten Bauphase erlaubt Aussagen zu den Trägerpfosten, die als Halt für die dazwischen zu denkenden Flechtwandabschnitte gedient haben. Hinweise für einen Wehrgang sind in den ersten beiden Ausbauphasen nicht gefunden worden, so dass die Palisade nicht sehr hoch gewesen sein dürfte und lediglich Schutz für dahinter postierte Verteidiger geboten haben musste. Angesichts der steilen Flanken des Kapellenberges war eine massive Verteidigungspalisade, wie sie etwa für die Siedlung von Urmitz (Abb. 3) rekonstruiert wird, auch gar nicht notwendig. Die geschickte Ausnutzung des Geländes hatte viel Arbeit gespart.

Abb. 13: Möglicher Personendurchgang durch die Palisade (Foto: W. Feth)

Im Schnitt von 2012 wurde auch ein möglicher Durchgang gefunden. Im Querprofil konnte eine etwa einen Meter breite Vertiefung freipräpariert werden, die sich über einige Dezimeter verfolgen ließ (Abb. 13). Der Untergrund bestand aus einer offensichtlich festgetretenen rötlichen Asche- und Brandschicht. Möglicherweise handelt es sich hier um einen Personendurchgang, in dessen Bereich es immer wieder zu Aktivitäten kam, bzw. der auch nach dem Abbrennen der Palisade noch genutzt wurde. Solche engen Durchgänge sind bislang für steinzeitliche Verteidigungsanlagen in Mitteleuropa nicht dokumentiert, ethnografisch aber auf der ganzen Welt belegt. Zur Zeit der Michelsberger Kultur waren Wagen noch nicht gebräuchlich und wären auf dem Kapellenberg angesichts der steilen Hänge auch ganz sinnlos gewesen. Ein schmaler Durchgang erfüllte den Zweck, Vieh konnte hindurchgetrieben werden, Personen fanden Ein- und Auslass und er war auch schnell verschlossen, möglicherweise nur mit dornenbewehrten Büschen. Vielleicht waren alle Durchgänge auf dem Kapellenberg so angelegt. Die bislang vorgeschlagenen Toranlagen am Kreuzweg, im Bereich der Kapelle und an der Erosionsrinne am Westhang, sind alle nicht gesichert, zumal die Erosionsrinne in ihrer heutigen Tiefe sicherlich weitaus jünger als die Befestigungsanlage ist. Schmale Durchgänge wären beim Verfall der Wallkuppe wieder zuerodiert und heute nicht mehr sichtbar.

In der Rekonstruktionszeichung (Abb. 14) sind neben dem Durchgang noch zwei Rinderschädel auf Stangen gezeigt, solche wurden anhand von Funden von Rinderschädeln in Grabenköpfen im Eingangsbereich des Erdwerks von Bruchsal-Aue vorgeschlagen. Ein aufgespießter menschlicher Schädel ist aus dem Erdwerk von Ilsfeld im Kraichgau belegt. Knochen und Horn sind jedoch auf dem Kapellenberg aufgrund des entkalkten Bodens nicht erhalten, so dass diese – eben auf archäologischen Befunden beruhende – Phantasie um einer eindrucksvolleren Darstellung willen erlaubt sei.

Abb. 14: Rekonstruktion des möglichen Personendurchganges im Bereich vom Schnitt 2012 (Zeichnung: M. Ober, RGZM)

Die Kleidung der Wachen ist nach dem Befund des Mannes vom Hauslabjoch rekonstruiert, die Kleidung der Frau folgt einer Interpretation von figürlichen Darstellungen aus Maizy in Frankreich. Leider sind uns ansonsten kaum Hinweise auf das Aussehen der Menschen aus jener Zeit überliefert.

Über die Bebauung der Innenfläche ist bislang nur zu vermuten, dass hier einst auf dem gesamten Plateau Häuser gestanden haben. Ein Hausgrundriss wurde 1975 von Rolf Kubon unterhalb des südlichen kleinen Grabhügels ergraben. Offensichtlich war es ein Pfostenbau, mit einer Breite von etwa 5,80 m und einer Länge von 8,70 m, er war NO-SW ausgerichtet, wobei die Tür sicherlich im SW lag. Die sehr wenigen bekannten, allerdings auch viel kleineren, Siedlungen aus dieser Zeit zeigen alle eine einheitliche Ausrichtung der Häuser. Bei einer flächendeckenden Besiedlung hätten auf dem Plateau etwa 1200 Häuser gleichzeitig stehen können, was wiederum eine Bevölkerung von maximal 7200 Einwohnern ergeben hätte. Es ist allerdings ganz unwahrscheinlich, dass die ganze Fläche gleichzeitig mit Häusern bestanden war. Möglich sind hingegen Gruppen von Gebäuden, die im Laufe der mehrhundertjährigen Belegung einen flächendeckenden archäologischen Fundschleier hinterlassen haben. Hausgruppen wurden vielleicht verlegt oder aber der gesamte Platz zeitweise ganz aufgegeben und nach Rückkehr wurden die Gebäude an anderer Stelle auf dem Plateau erneut errichtet.

Tatsächlich wissen wir bislang nicht, ob der Kapellenberg während der gesamten michelsbergzeitlichen Belegungsdauer von etwa 4200 bis 3500 v. Chr. kontinuierlich besiedelt war. Wie an anderen Plätzen dieser Zeit, wurden Gräben und Wälle in bestimmten Phasen errichtet, danach scheinen sie kaum beachtet gewesen zu sein und ausweislich der Bodenbildungsschicht am Profil von 2008 waren sie ja offensichtlich auch mit dichter Vegetation bestanden. Es ist fraglich, ob in diesen Zwischenphasen überhaupt Menschen auf dem Kapellenberg gelebt haben oder ob sie in das vorliegende Umland gezogen waren, aus dem ja auch Siedlungen bekannt sind. Der Kapellenberg war vielleicht dann nur eine Zufluchtsstätte in Krisenphasen. Wie oben bereits dargelegt, wird für die Michelsberger Zeit eine stark flukturierende Siedlungsdynamik diskutiert: bei einem extensiven Brandrodungsfeldbau wurden Dörfer und Weiler vielleicht nach nur ein, zwei Dekaden verlegt, weil die Landwirtschaft die Böden ausgelaugt hatte. Alle diese Fragen müssen erst noch geklärt werden.

Am Ende des Neolithikums

Nach der Michelsberger Kultur wurde der Kapellenberg weiter genutzt, vielleicht stammt ja die letzte Wallphase aus dem Spätneolithikum. Auch die große michelsbergzeitliche Grabenanlage von Calden bei Kassel wurde nach ihrer ersten Bau- und Nutzungszeit immer wieder aufgesucht. Am Kapellenberg sind zwei Grabhügel bekannt, von denen einer 1973-1975 von Rolf Kubon untersucht wurde. Er konnte die Reste einer schnurkeramischen (2800- 2400 v. Chr.) Bestattung feststellen, die von einem runden Gräbchen umgeben war und ehemals einen Hügel von 2 m Höhe und 6 m Durchmesser gehabt haben soll. Heute sind beide Grabhügel zerflossen und im Sommer in der Vegetation kaum auszumachen.

Nach dieser Zeit liegt bis zur römischen Epoche (s. Beitrag Scholz) keine sichere Nutzung mehr vor, ganz unklar ist die Zeitstellung der sogenannten „Rundschanze“ südwestlich der Kapelle und heute vom Weg geschnitten. Hier wurde in einer Grabung von G. Wolff 1896 ein Spitzgraben freigelegt, der außen von einer Palisade umgeben gewesen sein mag. Im Innern vermutete Wolff einen eingetieften Rundbau von etwa 5 m Durchmesser. Die Datierung der Anlage ist bislang gänzlich unklar.

Die eindrucksvollsten und auch wissenschaftlich wichtigsten Funde am Kapellenberg gehören jedenfalls in die Jungsteinzeit, jener Epoche, während der sich in Europa die ersten großen Siedlungen und Fernwegnetze entwickelten, die als Ausdruck einer komplexen Gesellschaft zu werten sind. Somit steht der Kapellenberg gleichsam bildhaft am Beginn der abendländischen Kulturgeschichte, die über die Antike, das Mittelalter und die Industrialisierung letztlich bis zu unserer heutigen Zeit führt.

Anm.:

Für die Hinweise zu den Ergebnissen der archäobotanischen Untersuchungen bin ich Frau Prof. Dr. Angela Kreuz, hessenARCHÄOLOGIE, Wiesbaden, herzlich dankbar.

Weiterführende bzw. verwendete Literatur:

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Dieser Beitrag wurde in Jade und Salz - Der Hofheimer Kapellenberg und seine Geschichte, Stadtmuseum Hofheim am Taunus - Beiträge zur Kultur- und Stadtgeschichte 18, 2013, Seite 7 bis 24, veröffentlicht. Der Autor Prof. Dr. Detlef Gronenborn, Römisch-Germanische Zentralmuseum – Forschungsinstitut für Archäologie (RGZM), Mainz, hat der Veröffentlichung dieses Beitrags auf unserer Webseite freundlicherweise zugestimmt. Wir sagen vielen Dank.


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