Das römische Militär in Hofheim und der Wachtturm auf dem Kapellenberg
Markus Scholz und Thomas Becker
Das Hochfeld bei Hofheim nahm 70-80 Jahre lang eine wichtige strategische Position in der Vorfeldsicherung der römischen Rheingrenze ein; rund 500 Soldaten klärten von hier die Mainebene auf und sicherten die Taunuspassage durch das Lorsbachtal. In dieser Zeit bestanden nacheinander zwei Militärlager auf dem Hochfeld, das ältere sog. Erdlager (ca. 30/40 – 75 n. Chr.) und das jüngere sog. Steinkastell (ca. 75 n. Chr. – 106/110 n. Chr.) (Abb. 1). Beide Kastelle trennt nicht nur die historische Zäsur der Zerstörung des Erdlagers in den Wirren des Vierkaiserjahres und des sog. Bataver-Aufstands 69/70 n. Chr., sondern hinter ihrer Erbauung standen auch unterschiedliche Konzepte der Grenzsicherung des Römischen Reiches gegen die Germanen. Durch die Kombination der historischen Überlieferung mit den archäologischen Befunden und Funden, insbesondere mit den fast 1000 Münzen aus beiden Lagern, sind die beiden Hofheimer Militärlager fest datiert. Dadurch kommt ihnen in der Archäologie des ersten Jahrhunderts n. Chr. die Rolle eines chronologischen „Eichplatzes“ von internationaler Bedeutung zu.
Abb. 1: Hofheim am Taunus, die römischen Anlagen (Nach H. Schaeff, Hofheim I 2011, 6)
Hofheim – ein Vorposten Roms
Betrachtet man die große Zahl römischer Militärlager rechts des Rheins und nördlich der oberen Donau und deren geografische Verteilung, wird auf einen Blick klar: Rom hatte nie eine Art „Masterplan Germanien“ (Abb. 2). Die zahlreichen Stützpunkte sind vielmehr das Ergebnis einer im Laufe von rund 250 Jahren mehrfach gewechselten Konzeption der Grenzsicherung und -ziehung. Diese – im Ganzen betrachtet – unentschlossen wirkende Germanienpolitik Roms stellt einen Glücksfall für die Archäologie dar, denn die binnen weniger Jahrzehnte verschobenen Kastelle und Linien ermöglichen relativ enge Datierungsabfolgen des archäologischen Fundmaterials und schaffen damit günstige Voraussetzung für die Erforschung der provinzialrömischen Kultur im Norden und Westen des Römischen Reiches. Die Grenzsicherung beiderseits des Rheins diente in erster Linie dem Schutze Galliens. Dieses war 58 – 52 v. Chr. von Gaius Julius Caesar erobert und danach zu einer römischen Provinz ausgebaut worden. Caesar versuchte durch An- und Umsiedlungen unterworfener Germanenstämme eine Art Pufferzone am Westufer des Rheins zu schaffen. Die Legionen blieben gemäß einer raumdeckenden Strategie in Gallien stationiert. Dies änderte sich erst ab ca. 20 v. Chr. durch wiederholte, militärisch organisierte Raubzüge germanischer Verbände nach Gallien. Als es diesen 16 v. Chr. gelang, die Truppen des gallischen Statthalters Marcus Lollius zu schlagen und den Adler der legio V zu erbeuten, änderte Augustus die Germanienpolitik: Die Legionen besetzten in den folgenden Jahren die Rheinlinie und errichteten Truppenlager. Als eines von drei Militärzentren entstand damals das Doppellegionslager Mogontiacum /Mainz, die anderen beiden sind Novaesium/Neuss und Vetera/Xanten am Niederrhein. Aus römischen Gegenoffensiven entwickelte Augustus den Plan der Eroberung Germaniens bis zur Weser oder Elbe, der 9 n. Chr. jäh durch den Verrat germanischer Verbündeter und die überfallartige Vernichtung dreier Legionen scheiterte – gerade als Rom dabei war, die scheinbar befriedete provincia Germania einzurichten. Davon zeugt nicht zuletzt die zivile Stadtgründung bei Lahnau-Waldgirmes, die möglicherweise sogar noch einige Jahre nach 9 n. Chr. fortbestand. Während der Germanienoffensiven (13 v. Chr. – 16 n. Chr.) scheint Hofheim noch keine Rolle gespielt zu haben. Bedeutend waren die Vormarschlinien entlang des Mains, der Lahn und durch die Wetterau, belegt durch Stützpunkte bei Wiesbaden(?), Höchst (am Main), Flörsheim(?) und Marktbreit, Oberbrechen und Dorlar bzw. Rödgen, Friedberg und Arnsburg.
Abb. 2: Römische Militärlager in Südwestdeutschland, 1.– 3. Jh. n. Chr. (Nach Imperium Romanum. Ausstellungskatalog Stuttgart 2005, 49)
Die Abberufung des Feldherrn Germanicus durch Kaiser Tiberius 16 n. Chr. leitete einen Politikwechsel ein. Die Offensiven gegen Germanien wurden eingestellt, Rom konzentrierte sich nun defensiv auf die Sicherung und den Ausbau der Rheingrenze. Anders als heute verlief die Grenze jedoch nicht in des Flusses Mitte, denn Rom beanspruchte beide Ufer. Das Mündungsgebiet des Mains blieb auch im Defensivkonzept von herausragender strategischer Bedeutung. Um eine wirksame Kontrolle des Untermaingebietes zu gewährleisten, wurden zwischen 20 und 40 n. Chr. im Vorfeld des Doppellegionslagers Mainz rechts des Rheins mehrere Vorposten errichtet: Nördlich des Mains erbaute das römische Militär feste Standlager, sog. Winterlager (castra hiberna) auf dem Heidenberg in Wiesbaden und auf dem Hochfeld bei Hofheim. Südlich des Mains sind entsprechende (zeitlich teilweise aufeinander folgende) Militäranlagen bei Trebur-Geinsheim, Wallerstädten und Nauheim bei Groß-Gerau bekannt, die zudem die Aufgabe hatten, die Rheinfurt in Höhe Nierstein / Oppenheim zu decken.
Abb. 3: Der Mainzer Brückenkopf ca. 30/40 – 75 n. Chr., kartiert sind die bekannten römischen Militärlager im Rhein-Main-Gebiet
(Grafik M. Ober, RGZM)
Im Bereich dieses Brückenkopfsystems war das sog. Erdlager bei Hofheim der am weitesten vorgeschobene Militärposten, etwa einen Tagesmarsch von Mainz entfernt (Abb. 3). Die etablierte archäologische Bezeichnung „Erdlager“ (eigentlich besser: Holzlager) bezieht sich auf die Bautechnik: Sowohl die Umwehrung als auch die Innengebäude bestanden aus Erde und Holz bzw. Fachwerk; Steingebäude stellten in den Kastellen bis zur Mitte des ersten Jahrhunderts n. Chr. noch die Ausnahme dar. Das Lager war für etwa 500 Soldaten ausgelegt. Neben Infanterie ist vor allem mit Reitern und auch mit Bogenschützen zu rechnen. Aufgrund von Namensgraffiti dürfte ein Teil der Soldaten aus dem Donauraum stammen. Es handelt sich vermutlich um Hilfstruppen, die üblicherweise aus den Einwohnern der Provinzen rekrutiert wurden. Letztere besaßen kein römisches Bürgerrecht, sondern mussten sich dieses durch den Militärdienst erst erarbeiten – seit Kaiser Claudius dauerte die Dienstzeit mindestens 25 Jahre. Die Besatzung des Erdkastells Hofheim bestand möglicherweise aus Soldaten verschiedener Einheiten, die von diesen (zeitweise) hierhin abkommandiert wurden. Man kann die Hofheimer Truppe gewissermaßen mit einer modernen „task-force“ vergleichen, die einen speziellen, regionalen Auftrag hatte. Offenbar sollte sie sowohl in der Lage sein, den Standort zu verteidigen (Infanterie, Bogenschützen) als auch in begrenztem Maße offensive Operationen durchzuführen, wohl hauptsächlich in Form mobiler Aufklärungstätigkeit (Reiterei).
Die Kastelle dienten zugleich der Kontrolle der neuen Bevölkerung in der zuvor wohl weitgehend siedlungsleeren Region. Ab dem zweiten Jahrzehnt n. Chr. ließen sich mit Duldung oder auf Anweisung Roms im Raum Wiesbaden die Mattiaci, ein Teilstamm der germanischen Chatti, nieder (Tacitus, Germania 29). Das Hessische Ried hingegen wurde mit Einwanderern aus dem oberen Elbegebiet aufgesiedelt. Insbesondere die Gräberfelder von Biblis, Nauheim „Seichböhl“ und Groß-Gerau „Schindkaute“ fallen durch qualitätvolle römische Waren auf, z.B. Bronzegeschirr, Keramik- und Glasgefäße. Die Beigabe von Waffen in zahlreichen Männergräbern gilt als ein bei Kelten und Germanen verbreiteter Ritus. In der Zusammenschau lässt das archäologische Fundmaterial aus diesen Gräbern darauf schließen, dass die Germanen als Milizen im Auftrag Roms das südliche Vorfeld von Mainz sicherten. Nicht nur in unserer Region ist die Archäologie in den letzten Jahrzehnten immer besser in der Lage, die komplexen Beziehungen zwischen Rom und den Germanen zu erhellen. Es zeigt sich immer deutlicher, dass „die Germanen“ zu keiner Zeit als einheitlich-feindlicher Block dem Imperium gegenüberstanden, sondern dass es teils kontinuierliche, teils wechselhafte Bündnisse mit den einzelnen Germanenstämmen bzw. Kriegerkoalitionen gab.
Gleichzeitig begann Rom mit der wirtschaftlichen Erschließung des Territoriums. Die warmen Quellen von Aquae Mattiacorum/Wiesbaden dienten schon früh als Erholungs- und Kurort der Mainzer Legionen. Darüber hinaus berichtet Tacitus (Annalen 11,20) vom Silberbergbau in agro Mattiaco, d. h. im Bereich des westlichen Taunus, wenn auch nur mit mäßigem Erfolg. Archäologisch gibt es hierzu erste Hinweise im Umfeld des Lagers von Oberbrechen.
Doch die Bedrohung durch romfeindliche Germanen blieb bestehen. Von Mainz aus führte Rom 39, 41, 50/51 und 58 n. Chr. Feldzüge gegen die im heutigen Mittel und Nordhessen siedelnden Chatti. Der Feldzug des Kaisers Caligula 39 n. Chr. scheint besonders verlustreich gewesen zu sein. Vier in Mainz gefundene Grabsteine von Legionären der legio XV Primigenia, die in ihrem ersten Dienstjahr gefallenen waren, deuten auf einen hohen Blutzoll unter den unerfahrenen Rekruten dieser für den Chatten-Feldzug frisch aufgestellten Legion hin. Doch es kam noch schlimmer: Nach dem Tode der Kaiser Nero und Galba entbrannte 69/70 n. Chr. ein blutiger Bürgerkrieg, bekannt als sog. Vierkaiserjahr. Die Rheinlegionen zogen für ihren Oberbefehlshaber und Thronprätendenten Aulus Vitellius in den Kampf. Im Rücken der nach Italien abmarschierten Truppen brach der Aufstand der niederrheinischen Bataver aus, dem sich verschiedene germanische und teilweise auch ostgallische Stämme anschlossen. Zahlreiche Militärlager, darunter auch das Hofheimer Erdlager, gingen in Flammen auf, die Herrschaft Roms am Rhein wankte bedrohlich. Das Mainzer Legionslager wurde von einem Verband aus Chatten, Mattiakern und Usipetern belagert und konnte von den zurückgebliebenen Truppenteilen nur mit Mühe gehalten werden (Tacitus, Historien 4,37,2-3).
Kaiser Titus Flavius Vespasianus, der Ende 70 n. Chr. als Sieger aus dem Bürgerkrieg hervorgegangen war, reorganisierte die Rheingrenze. Im rechtsrheinischen Gebiet leitete er einen Strategiewechsel ein: Das System der Brückenkopfsicherung durch Kastelle im Vorfeld von Mainz wich der dauerhaften Okkupation des Rhein-Main-Gebietes und der Wetterau. Zwar kam es zu einer vorübergehenden Wiederbesetzung des zerstörten Erdlagers, doch vermutlich unter dem Statthalter Cnaeus Pinarius Cornelius Clemens (74 – 76 n. Chr.) wurde von Castellum Mattiacorum / Mainz-Kastel aus über Hofheim und Nida / Frankfurt-Heddernheim eine Vormarschlinie in die Wetterau trassiert, die spätere sogenannte Elisabethenstraße (zwischen dem Kriftler Dreieck und Eschborn liegt heute die Autobahn A66 auf ihrer Trasse). Mit der Neugründung der Kastelle Heddernheim, Okarben und (evtl. zeitlich versetzt) Friedberg und Bad Nauheim fiel das rund 100 m östlich des Erdlagers neu errichtete zweite Kastell bei Hofheim von der Frontlage in die Etappe zurück. Zeitweilig kam unter den flavischen Kaisern Vespasian, Titus und Domitian auch wieder eine offensive Komponente in die Germanienpolitik, worauf das Legionslager in Rottweil (Baden-Württemberg) sowie das einst mindestens 14 ha umfassende Lager von Hanau-Kesselstadt hinweisen. Letzteres gehört wohl in den Kontext der Chattenkriege Domitians 83 und 85 n. Chr., bestand aber nur kurz.
Der Bürgerkrieg 69/70 n. Chr. hatte außerdem gelehrt, dass es auf eine schnelle Verbindung zwischen den Rhein- und Donaulegionen ankam. Durch die Besetzung Südwestdeutschlands ließ sich der Marschweg erheblich verkürzen. Die Sicherung dieser Verbindung war der eigentliche Sinn der Besetzung des späteren Limesgebietes. Das jüngere Hofheimer Kastell hatte die modernere rechteckige „Spielkartenform“, die sich nun im ganzen Reich immer mehr durchzusetzen begann. Der nutzbare Innenraum wurde dadurch etwas größer (2,15 ha statt 1,9 ha des Erdlagers), doch scheint sich an der Mannschaftsgröße nicht viel geändert zu haben (siehe oben). Durch Funde ist – wie wohl schon im Erdlager – eine aus verschiedenen Waffengattungen gemischte Truppe zu erwarten, zu der auch Legionäre gehörten. Darauf deutet u.a. die Besitzerinschrift eines scorpionarius hin, der zur Bedienmannschaft eines Pfeilgeschützes gehörte. Das anfangs in Holz (Schnellbautechnik) errichtete Kastell wurde gegen Ende des ersten Jahrhunderts mit einer gemauerten Umwehrung ausgestattet. Deshalb sprechen die Archäologen von „Steinkastell“. Die Ummauerung bestätigt, dass dieser Standort auf Dauer angelegt war.
Vom Erdlager bestand auch kein direkter Blickkontakt mit dem Legionslager Mogontiacum/Mainz, denn der Taunusausläufer bei Diedenbergen schiebt sich dazwischen. Die rasche Kommunikation mit Mainz, wo im ersten Jahrhundert n. Chr. über 10.000 Soldaten bereitstanden, war im Falle eines germanischen Angriffs jedoch überlebenswichtig. Beide Probleme löste man durch die Errichtung eines Wachtturms auf dem Südsporn des Kapellenbergs (Abb. 4). Heute kann man die antiken Sichtverbindungen vor Ort wegen der dichten Bewaldung kaum nachvollziehen. Mit digitalen Höhendaten lassen sich die antiken Sichtverhältnisse jedoch simulieren (Abb. 5-6). Demnach bestand theoretisch eine direkte Sichtachse zum Haupttor (porta praetoria) des Mainzer Legionslagers, dessen Aussichtspunkt etwa auf Höhe der heutigen Kupferbergterrasse rekonstruiert werden kann.
Abb. 4: Blick vom Standort des römischen Erdlagers zum Kapellenberg 2013
(Foto M. Scholz)
Abb. 5: Geländeprofil der Sichtachse zwischen dem Wachtturm auf dem Kapellenberg und dem Legionslager Mainz auf Basis digitaler Höhendaten. Entscheidend ist der Überblick über die Taunus-Ausläufer oberhalb von Marxheim und Diedenbergen in bis zu 4 km Entfernung. Der Standort des Wachtturms lag wenige Meter höher.
(Grafik und Analyse Th. Becker, hessenArchäologie)
Abb. 6: Sichtbarkeitsanalyse der Blickachse Wachtturm auf dem Kapellenberg (grüner Punkt)– Kupferbergterrasse Mainz mittels LIDAR-Daten (grobe Auflösung)
(Grafik und Analyse A. Cramer, RGZM. Datenquellen: NASA, NGA, USGS EROS und ESRI*)
Abb. 7: Zustand des Wachtturms auf dem Kapellenberg mit seinem doppelten Ringwall im Frühjahr 2013
(Foto M. Scholz)
Betrachten wir nun die archäologischen Befunde des frührömischen Wachtturms im Einzelnen. Die im 19. Jahrhundert bereits als „Römerrundschanze“ bezeichnete Anlage wurde im Sommer 1896 unter Leitung des für die Region zuständigen Streckenkommissars der Reichslimeskommission, Prof. Dr. Georg Wolff (1845-1929), teilweise ausgegraben. Die Funde der Untersuchung gelangten in die Sammlung Nassauischer Altertümer in Wiesbaden. Seitdem fanden hier keine weiteren archäologischen Untersuchungen mehr statt. Oberirdisch sind auch heute noch die beiden konzentrischen Wall-Graben-Anlagen sichtbar, die den Turm umgaben (Abb. 7). Die beiden ringförmigen Gräben waren 3,5 – 4 m breit und ca. 1 – 1,5 m tief und weisen das für römische Wehranlagen typische spitze Profil auf. Der Aushub der Gräben wurde jeweils vor diesen als Wall aufgeschüttet, wodurch man die Grabenböschung erhöhte. Wall und Graben könnten mit Annäherungshindernissen bestückt gewesen sein, z.B. in Gestalt von Dornengestrüpp oder angespitzter Pfähle.
Der Nachweis solcher Befunde setzt optimale Erhaltungsbedingungen und hochpräzise Grabungstechnik voraus, was hier beides jedoch noch nicht zutrifft, letzteres aufgrund der frühen Erforschung. Vor Kurzem wurden zwei frührömische Wachtturmstellen bei Utrecht (Niederlande) untersucht, die hinsichtlich Größe, Struktur und Zeitstellung mit der Anlage auf dem Kapellenberg vergleichbar sind. Dort waren im dauerhaft nassen Boden noch Reihen angespitzter Pfähle erhalten, die teils senkrecht, teils schräg in dem den Turm umgebenden Graben steckten.
Eindeutig erkennt man hingegen den Zugang zur Hofheimer Anlage. Die Gräben und ihre zugehörigen Wälle enden spiralartig zueinander versetzt und lassen hangabwärts in südöstlicher Richtung einen schmalen, indirekten Durchlass in das umwehrte Innenareal frei (Abb. 8). Der Zugang lag damit nicht nur an der am besten zu verteidigenden Stelle, sondern war auch auf das Erdlager ausgerichtet, von wo die Turmbesatzungen abkommandiert wurden.
Abb. 8: Plan des Wachtturms auf dem Kapellenberg nach den Ausgrabungen 1896. Orange: der wahrscheinliche Grundriss des Turmes
(Nach G. Wolff, ORL Abt. B Nr. 29 [1897] Taf. V).
Im Inneren der doppelten Wall-Graben-Umwehrung gelang G. Wolff der Nachweis eines weiteren Annäherungshindernisses in Form eines Zaungräbchens, auf dessen Sohle er in einem Abstand von rund 2 m Pfostenspuren von 35 cm Durchmesser feststellte (Abb. 8 d, n, o, p, q). Diese könnten eine Wand aus Brettern oder Flechtwerk gestützt haben. Für die zuletzt genannte Möglichkeit bietet wiederum eine der beiden Turmanlagen bei Utrecht eine Parallele. Im Süden, auf Höhe des Grabendurchlasses, war das Zaungräbchen unterbrochen, was wohl auf ein Tor hinweist (Abb. 8 m). Die Umwehrung mit Graben und Holzzaun bzw. Palisade blieb noch bis um 150 n. Chr. üblich, was sowohl durch Befunde an den Holzwachttürmen der älteren Phasen des Limes als auch durch Reliefdarstellungen auf den Siegessäulen der Kaiser Trajan und Marcus Aurelius in Rom (Abb. 9) bestätigt wird. Der Sinn dieser Umwehrungen liegt auf der Hand: Sie ließen sich zwar nicht lange verteidigen, sollten die Turmbesatzung aber vor Überrumpelung schützen und potenzielle Angreifer lange genug aufhalten, damit die Wachmannschaft Zeit genug hatte, um ein Alarmsignal zu geben. Darauf dürfte es auch im Falle des Spähpostens auf dem Kapellenberg angekommen sein. Ferner hielt die Umwehrung Wildtiere vom Umfeld der Türme fern. Es ist nämlich möglich, dass die Turmbesatzung in begrenztem Umfang Nutztiere (Ziegen, Schafe) vor Ort hielt, wie dies für einzelne Limeswachttürme nachgewiesen werden konnte.
Abb. 9: Reliefdarstellung einer Kette von Wachttürmen mit Palisadenumwehrung auf der Trajanssäule in Rom
(Nach E. Fabricius, ORL Abt. A 1 [1936] Abb. 4)
Da sich im Inneren der Anlage keinerlei Spuren von Steinbau fanden, muss auch der Turm selbst – wie in dieser Epoche üblich – aus Holz konstruiert gewesen sein. Spärliche Reste von Brandlehm (wohl von einer Herdstelle) mit Rutenabdrücken legen nahe, den Aufbau des Turms zumindest teilweise in Fachwerktechnik zu rekonstruieren (Abb. 10). Ein Lehmverputz hätte zudem nicht nur einen gewissen Witterungsschutz geboten, sondern es potenziellen Angreifern auch erschwert, den Turm in Brand zu stecken. Innerhalb der umzäunten Fläche führten die Ausgräber den Nachweis mehrerer Pfostenspuren. Das war am Ende des 19. Jahrhunderts revolutionär, denn die für die Aufspürung von Erdverfärbungen nötigen Methoden der Grabungstechnik wurden damals gerade erst entwickelt. G. Wolff wollte den Turmgrundriss in vier dezentral im Inneren gelegenen Pfostenspuren erkennen (Abb. 8 a, v, e, u). Im übrigen Freiraum nahm er eine Baracke an.
Abb. 10: Versuch einer Rekonstruktion des Wachtturms auf dem Kapellenberg
(Zeichnung M. Ober, RGZM)
Gegen Wolffs Rekonstruktion spricht jedoch die Tatsache, dass militärische Wachttürme so geringer Größe mit 3 – 3,5 m Seitenlänge ansonsten unbekannt sind. Im gesamten Areal, so auch zwischen den fraglichen Pfosten, kamen sowohl römische als auch neolithische Keramikscherben zutage (Abb. 11). Wie G. Wolff sorgsam beobachtet hat, waren einzelne Scherben später mit der Erde in die (verrotteten) Pfostenstellungen nachgerutscht. Leider lässt sich nicht mehr feststellen, welche Fragmente es waren, d. h. ob es sich nur um neolithische oder auch um römische handelte, und in welchen der vier Pfosten solche Funde zutage kamen. Damit bleibt die Möglichkeit offen, dass einige Pfosten zu vorrömischen, wohl neolithischen Holzkonstruktionen gehört haben könnten. Eindeutig römisches Fundmaterial enthielten jedoch die kastenförmigen Gruben b und w (Abb. 8) aus Grube w stammt die Bronzefibel (Abb. 12), deren Ausdehnung und Tiefe von 1,7 bzw. 1,4 m sehr wohl den Einstellgruben massiver Pfosten entsprachen, wie sie in der römischen Holzbauarchitektur gängig waren. Es ist oft schwierig, sowohl die Pfostengrube als auch die Standspur des in sie eingestellten Pfostens anhand von Erdverfärbungen zu erkennen. Da G. Wolff in den benannten Gruben keine Pfosten vermutete, könnten ihm entsprechende Hinweise entgangen sein. Umgekehrt könnte dies auch für die Einstellgruben der Pfosten f und i gelten (Abb. 8). Daher schlagen wir hier vor, den Turmgrundriss mit den Pfosten bzw. (Pfosten-) Gruben f, i, b und w (Abb. 8) zu rekonstruieren. Die zentrale Position innerhalb der Anlage und vor allem der quadratische Grundriss von rund 4,8 – 5,1 m (16 x 17 römische Fuß) würde sehr viel eher zu römischen Turmbauten passen. Gut vergleichbare Parallelen sowohl für den Grundriss als auch für die Pfostengruben kennt man nicht zuletzt von Holztürmen der frühen Phasen des Limes.
Abb. 11: Sammelaufnahme der römischen Funde vom Wachtturm auf dem Kapellenberg
(Foto R. Müller, RGZM)
Abb. 12: Bronzefibel vom Wachtturm auf dem Kapellenberg
(Foto R. Müller, RGZM).
Das bereits erwähnte römische Fundmaterial setzt sich vorwiegend aus Bruchstücken von Vorrats- (Krüge) und Küchenkeramik (Töpfe) zusammen, aber auch mehrere Fragmente einer qualitätvollen, mit pflanzlichem Reliefdekor verzierten Terra Sigillata-Schüssel sind im Fundmaterial vertreten (Abb. 11). Das Ensemble dokumentiert, dass sich die Mannschaften in dem Vorposten verpflegten und wohl – wie im Falle der späteren Limestürme – auch eine Zeit lang (wenige Tage?) dort lebten. Ausgehend von den Platzverhältnissen und inschriftlich überlieferten Stärkemeldungen römischer Einheiten aus dem zweiten und frühen dritten Jahrhundert, z.B. aus Vindolanda am Hadrianswall in Nordengland, aus Dura Europos in Syrien oder aus Gholeia / Bu Njem in Libyen ist mit 4-5 Mann pro Turm zu rechnen. Die Funde vom Kapellenberg entsprechen chronologisch dem Fundspektrum des Hofheimer Erdlagers. Das gilt auch für den einzigen Metallfund, eine einfache Bronzefibel (Verschluss eines Mantels oder Umhangs; Abb. 12).
Abb. 13: Gask Ridge, Schottland; Zustand einer Wachtturmstelle im Jahre 2011
(Foto M. Scholz).
Falls die Annahme weiterer Relaisstationen zutrifft, kommt noch eine dritte Art der Signalübermittlung in Frage, nämlich durch verstellbare Balken auf Gestellen oder mastartigen Stangen. Zumindest wird das Prinzip der Übermittlung optischer „Morsezeichen“ auf diesem Wege bzw. mittels Fackeln von Polybios (ca. 200-120 v. Chr.) beschrieben. Leider ergeben sich aus der Sichtbarkeitsanalyse (siehe oben) keine Anhaltspunkte für die zu rekonstruierende Höhe des Wachtturms, denn Mainz war theoretisch schon vom Bodenniveau aus sichtbar. Analog zu den späteren Limestürmen ist jedoch am ehesten mit einem dreistöckigen Aufbau und mit einer Gesamthöhe zwischen 8 und 15 m zu rechnen.
Ein wesentlicher Zweck des Wachtturms auf dem Kapellenberg ist in der Kontrolle des Lorsbachtals zu suchen. Nur dessen Ausgang konnte vom Hofheimer Erdlager aus eingesehen werden. Vom Südsporn des Kapellenbergs hingegen sah man mindestens 2 km weit in das Tal hinein. Für die Überwachung topografisch-strategisch wichtiger Verkehrswege, Täler und Passagen mittels vorgeschobener Wachttürme lassen sich auch aus anderen Teilen des Römischen Reiches Parallelen anführen (Abb. 14-15).
Abb. 14: Gheriat al Gharbiyah, Libyen. Oben: Vorgeschobener Wachtturm in ca. 1,5 km Entfernung des Kastells Gheriat, Anfang 3. Jh.; von hier aus konnte die durch ein Wadi führende Karawanenroute nach Leptis Magna überblickt werden. Unten: Blick vom Wachtturm in das Wadi nach Norden
(Fotos M. Scholz)
Abb. 15: Kanais, Ägypten; Die Verbindungsstraße von Edfu im Niltal zum Roten Meer bei Marsa Alam führt durch das enge Wadi Barramiya. Im Vordergrund die Ruine eines Wachtpostens oberhalb des römischen Kastells (Bildmitte links). Der Turm auf der gegenüberliegenden Bergkette ist wahrscheinlich auch römischer Zeitstellung
(Foto Stefanie Kicherer)
Literatur
1 | Allgemein zu den Römern im Rhein-Main-Gebiet: | |
2 | Zeit der Germanenfeldzüge unter Augustus: | |
3 | Zu den römischen Militäranlagen in Hofheim: | |
4 | Zu den Römern im Hessischen Ried: | |
5 | Zum Verhältnis Römer – Germanen: | |
6 | Zu römischen Wachttürmen und militärischen Signalsystemen: |
Dieser Beitrag wurde in Jade und Salz - Der Hofheimer Kapellenberg und seine Geschichte, Stadtmuseum Hofheim am Taunus - Beiträge zur Kultur- und Stadtgeschichte 18, 2013, Seite 26 bis 43, veröffentlicht. Der Autor Prof. Dr. Markus Scholz, Goethe-Universität, Archäologie und Geschichte der römischen Provinzen, Institut für Archäologische Wissenschaften, Frankfurt am Main, hat der Veröffentlichung dieses Beitrags auf unserer Webseite freundlicherweise zugestimmt. Wir sagen vielen Dank.