Geschichte Hofheimer Vereine
Turnverein Vorwärts
Der Turnverein Vorwärts hat in Hofheim nur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts existiert, aber vom Kaiserreich bis in die Nazi-Herrschaft eine sehr wechselvolle Geschichte durchlebt. Er wurde am 23. August 1902 auf Initiative mehrerer Mitglieder des schon seit 1860 bestehenden ältesten Turnvereins Hofheims gegründet. In dem Protokollbuch des Vereins wird die Abspaltung vom TV 1860 damit begründet, dass bei diesem Verein seinerzeit die Gesangsriege eine wichtigere Rolle gespielt habe als das Turnen. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass auch die politische Ausrichtung des Vereins eine Rolle spielte, wie bei den meisten Vereinen dieser Zeit. In dem vorwiegend bürgerlichen TV 1860 fühlten sich die Vertreter der Arbeiterbewegung nicht mehr wohl. Für diese Vermutung spricht schon die Namenswahl für den neuen Sportverein, denn „Vorwärts“ war schon lange der Name des wichtigen SPD-Parteiorgans.
Zu den 42 Mitgliedern und 21 „Zöglingen“ bei der Vereinsgründung gehörten sicher auch einige SPD-Mitglieder, so z. B. Johann Schwalbach, der schon im Februar 1891der Delegierte aus Hofheim beim ersten Sozialdemokratischen Parteitag für Hessen-Darmstadt und Hessen-Nassau in Frankfurt war sowie Nikolaus Sünder, der in der Zeit der Weimarer Republik sozialdemokratischer Stadtverordneter in Hofheim wurde. Als sich der Verein 1910 in das Vereinsregister eintragen lassen wollte, wurde die „linke“ Ausrichtung des Vereins beim damaligen Landkreis Höchst auch aktenkundig. Der zuständige Landrat Klauser bat den Hofheimer Bürgermeister Heß um eine Stellungnahme, worauf dieser antwortete, dass der Verein sozialdemokratische Tendenzen verfolge. Der Landrat fragte zurück, woran sie den festzustellen seien. Bürgermeister Heß antwortete daraufhin, "dass einzelne Mitglieder des Vereins bei Gelegenheit des jährlichen Kommerses zum Kaisergeburtstag (27. Januar) stets dann den Saal verließen, wenn der Kaisertoast ausgesprochen wurde". Außerdem sei der ganze Verein in Hofheim als der sogenannte „rote Verein“ bekannt.
Der neue Verein trat dem Dachverband der „Deutschen Turnerschaft“ bei, in dem auch der TV 1860 war, vermutlich auch deshalb, weil der die Gauturnfeste und das Feldbergfest veranstaltete, an denen seine Turner dann teilnehmen konnten. Der Verein hatte natürlich viel Aufbauarbeit zu leisten. Es mussten auf eigene Kosten Turngeräte beschafft werden. Die 1894 erbaute Turnhalle des TV 1860 konnte nicht mehr genutzt werden. Als Vereins- und Turnlokal diente zunächst der „Rheingauer Hof“. 1906 wurde der „Frankfurter Hof“ das Vereinslokal. Als erster Turnplatz diente ein Platz gegenüber dem Bahnhof, der von der Bahnverwaltung gepachtet wurde. Im Jahr 1910 erwarb der Verein zum Turnen einen Platz am Ende der Kurhausstraße, dort wo heute der Bolzplatz neben dem Gelände des Hofheimer Reit- und Fahrvereins ist.
Nach anfangs 63 Mitgliedern einschließlich der Schüler hatte der Verein Ende 1914 schon 183 Mitglieder. Der Schwerpunkt der Vereinsarbeit lag beim Turnen, beim laufenden Training dazu und bei der Teilnahme an Wettbewerben wie den vom Turngau Rhein-Main veranstalteten Gauturnfesten oder dem seinerzeit populären Feldbergfest. Wie wichtig dem Verein die Teilnahme seiner Turner an diesen Wettbewerben war, zeigt ein Antrag des Vorsitzenden Philipp Westenberger vom Mai 1913 an die Polizeibehörde Hofheim. Die Rückkehrer vom Feldbergfest am 1. Juni 1913 sollten mit „Vereinsmusik“ abgeholt werden. Bürgermeister Heß als Polizeiverwaltung genehmigte den Antrag. Neben dem Turnen wurde aber auch das gesellige Leben gepflegt, z. B. mit Sommerfesten, gemeinsamen Wanderungen oder Winterbällen.
Schon nach 12 Jahren Existenz gab es für den Verein durch den Beginn des 1. Weltkrieges einen gravierenden Einschnitt. Insgesamt 83 aktive Mitglieder, d. h. fast alle Turner, wurden zum Wehrdienst eingezogen oder wie es im Protokollbuch heißt, „sind dem Ruf des Kaisers gefolgt“. Die Tonlage entsprach dem vorherrschenden Zeitgeist. Die SPD im Reichstag hatte ja z. B. bei Kriegsbeginn auch den Kriegskrediten zugestimmt. Aus heutiger Sicht schwer verständlich bleibt aber eine Formulierung im Vereinsjahresbericht für 1914: „Gerade unser TV hat sich zur Aufgabe gemacht, in erster Linie die Jugend zu wehrhaften Männern und Vaterlandsverteidigern auszubilden“. Diese Einstellung wird sich im Kriegsverlauf bei vielen im Verein gewandelt haben. Am Ende waren 22 Mitglieder, d. h. rund 10% der Aktiven, im Krieg gefallen.
Die Vereinsaktivitäten waren während der Kriegszeit natürlich stark reduziert, aber es gab immer noch Teilnehmer an Gauturnfesten. Im Jahresbericht 1919 stellte der Chronist aber fest, dass sich „nach fünfjähriger Unterbrechung das Vereinsleben wieder voll entfalten konnte“. Es blieb aber offensichtlich von Konflikten nicht verschont. Die alleinige sportliche Ausrichtung auf das Turnen war wohl umstritten, es gab auch den Wunsch, außer Turnen auch Fußball, Leichtathletik oder Kraftsport ins Vereinsprogramm aufzunehmen. Für Fußball gab es in Hofheim damals nur den mehr bürgerlich orientierten Verein „Spielvereinigung 1909“ (auch heute noch SV 09).
Es gab vermutlich auch politische Hintergründe für eine Abspaltung vom TV Vorwärts. Die SPD war nach dem Weltkrieg und den Wirren der Nachkriegszeit politisch gespalten. Auch in Hofheim hatte sich neben der so genannten Mehrheits-SPD ein links orientierter Ortsverein der Unabhängige SPD (USPD) gebildet. Sie stand vermutlich hinter einem im Juni 1921 erschienener Aufruf im Anzeigenblatt der Stadt Hofheim, der die „klassenbewußte Arbeiterschaft von Hofheim“ darauf aufmerksam machte, dass hier eine „Freie Turn- und Sportgemeinde (FTSG Hofheim)“ gegründet worden war und die „Klassengenossen“ zum Beitritt aufforderte. Damit grenzte man sich von dem bürgerlichen TV 1860 ab, offenbar aber auch vom TV Vorwärts, der vor dem 1.Weltkrieg noch als der „rote“ Turnverein Hofheims galt. Im Unterschied zum TV Vorwärts wurde die FTSG Mitglied im deutschen „Arbeiter-Turn- und Sportbund“. Dieser neue Sportverein in Hofheim blieb bis 1933 sehr aktiv, u. a. mit Fußballmannschaften und Aktivitäten im Kraftsport (damals Ringen und Stemmen).
Den Aufschwung des TV Vorwärts nach dem Weltkrieg hat diese Abspaltung aber nicht behindert. Das Fehlen einer eigenen Turnhalle war für den Verein schon lange ein Thema. Durch Spenden der Vereinsmitglieder und durch viel Eigenarbeit gelang es dann nach der Grundsteinlegung im Oktober 1926 im Juni 1927 die eigene Turnhalle auf dem Turnplatz am Ende der Kurhausstraße einzuweihen. Die Einweihung wurde mit einem großen Fest begangen, u. a. mit Festzelt und Kinderkarussell. Im Herbst 1928 konnte dann schon mit dem Anbau einer Bühne begonnen werden. Das damit vollständige Gebäude wurde im Juni 1929 feierlich eingeweiht. Die Bühne wurde dabei mit dem vieraktigen Festspiel „Sonnwend!“ des Hofheimer Lehrers und Schriftstellers Theodor Wittgen eröffnet.
Eine weitere Erweiterung des kulturellen Vereinsprogramms geschah durch die Bildung eines Trommler- und Pfeifferkorps für Jugendliche, das der Turner Johann Faust leitete. Damit wurden auch viele Jugendliche für den Verein geworben. Für Werbung sorgten natürlich auch die Sommerfeste, Winter- und Maskenbälle, die in der neuen Vereinshalle veranstaltet wurden. Um 1930 gab es dann im TV Vorwärts etwa 400 Mitglieder. Im Mai 1932 wurde das 30-jährige Jubiläum des Vereins mit einem dreitägigen Fest groß gefeiert.
Der nächste große Einschnitt im Vereinsleben geschah durch den Beginn der Nazi-Diktatur im Januar 1933. In ihrer Ideologie der großen Volksgemeinschaft durfte es für die Nazis keine konkurrierenden Vereine aus unterschiedlichen Bevölkerungsschichten geben, schon gar keine, in denen sich ihre Gegner organisieren konnten. Deshalb wurden Vereine der Arbeiterbewegung verboten und ihr Vermögen beschlagnahmt. Um ihr Vermögen noch selbst retten zu können, lösten sie sich meist selber auf. Alle anderen Vereine wurden nach dem damaligen Sprachgebrauch „gleichgeschaltet“. Ihre Vereinssatzungen wurden für ganz Deutschland einheitlich vorgeschrieben. Es gab danach z. B. zur Führung der Vereine keinen Vorstand mehr, sondern nur noch einen Vereinsführer, der wie der Führer im Reich letztlich allein entscheiden konnte.
Zu den Vereinen, die sich in Hofheim 1933 selber aufgelöst haben, gehörten die „Freie Turn- und Sportgemeinde“, der „Arbeiter Radfahrer-Bund Solidarität“ und der „Arbeiter-Gesangverein Liederkranz“; sie sind nach 1945 nicht mehr wieder gegründet worden. Der TV Vorwärts gehörte wie der TV 1860 zu den gleichgeschalteten Vereinen. Ein wesentlicher Grund für diesen Schritt war sicher der Besitz der aus eigenen Mitteln und mit viel Engagement der Mitglieder erbauten Turnhallen, die bei einem Vereinsverbot beschlagnahmt worden wären. Man kann aber auch nicht ausschließen, dass eine nicht unbedeutende Zahl der Mitglieder sich der neuen Staatsform, der Hitler-Diktatur, anpassen wollten. Dafür sprechen beim TV Vorwärts einige Veranstaltungen des Vereins im Jahr 1933. Nach einem Bericht der Hofheimer Zeitung vom 27. Mai 1933 veranstaltete er z. B. schon in dieser Zeit - sicher ganz im Sinne der NSDAP-Ortsgruppe Hofheims – eine Gedächtnisfeier anlässlich des 10. Todestages von Leo Schlageter, der während der Ruhrbesetzung wegen mehrerer Sprengstoffanschläge von der französischen Besatzung hingerichtet worden war und der von den Nazis als Märtyrer verehrt wurde. Am Ende der Gedächtnisfeier wurde das Horst-Wessel-Lied („Die Fahne hoch…“) gesungen. Für einen Verein, der als „roter“ Turnverein begonnen hatte, erscheint diese Entwicklung sicher befremdlich.
Auf dem Programm des Vereins standen neben dem Training weiterhin die Teilnahme an Turnwettbewerben in der Umgebung, Werbeveranstaltungen für das Turnen, Vereinsfeste und –bälle, aber auch die obligatorische Teilnahme an den Festveranstaltungen und Umzügen der NSDAP wie beim „Tag der nationalen Arbeit“ (1. Mai) und dem Erntedankfest. Der Vereinsgruß wandelte sich von „Gut Heil“ in „Gut Heil – Heil Hitler“. Im März 1934 wurde eine Arbeitsgemeinschaft aus den beiden Turnvereinen TV 1860 und TV Vorwärts gebildet, um im Jahn’schen Geist um die „brüderliche Turner- und Volksgemeinschaft neu zu beleben“. Zur geplanten Vereinigung der beiden Vereine kam es aber bis zum Kriegsende nicht mehr.
Mit dem Beginn des 2. Weltkrieges im September 1939 werden die Vereinsaktivitäten stark zurück gegangen sein, aber wohl auch die finanziellen Möglichkeiten, das sportliche Angebot zu erhalten und die Turnhalle dauerhaft zu unterhalten. Dies führte dazu, dass die Stadt Hofheim durch Bürgermeister Meyrer die Vorwärtsturnhalle im April 1942 für 40.000 RM erworben hat, um sie als Stätte der Leibesübungen zu erhalten. Zu dieser Zeit war sie von dem Verein schon für bisher nicht bekannte Zwecke an die Reichsbahn, Direktion Kassel, vermietet worden. Eine weitere „Umnutzung“ fand Ende 1943 statt, als die Militärachse zwischen Berlin und Rom zerbrochen war und Italien zum Kriegsgegner wurde. Dadurch wurde die Turnhalle bis Kriegsende zum Bestandteil eines Lagers für italienische Kriegsgefangene in Hofheim.
Nach dem Kriegsende wurde die Halle wohl noch für andere Zwecke genutzt und dann zuletzt 1950 zu Wohnungen für Hofheimer Bürger umgebaut, im Jahr 1975 aber von der Stadt vollständig abgebrochen. Ihr früherer Standort ist heute nur noch durch den Bolzplatz am Ende der Kurhausstraße erkennbar. Der TV Vorwärts wurde bei einer außerordentlichen Mitgliederversammlung im Saal der "Krone" am 10. Januar 1943 aufgelöst. Letzter "Vereinsführer" war Wilhelm Großmann. Es gibt in Hofheim heute nur noch einen Gedenkstein, der an den Verein erinnert. Im Jahr 1932 hatte er an seiner Turnhalle einen Gedenkstein für die 22 Vereinsmitglieder errichtet, die im 1. Weltkrieg gefallen waren. Dieser Gedenkstein steht heute am Ehrenmal in Hofheim. Die Inschrift lautet "1914...1918. Seinen 22 gefallenen Helden in dankbarer Erinnerung. TV Vorwärts e.V. Mai 1932".
Quellen:
Anzeigeblatt der Stadt Hofheim 1920 – 1923.
Hofheimer Zeitung 1927 – 1943.
Protokollbuch des TV Vorwärts 1902 bis 1930. Stadtarchiv Hofheim.
Hessisches Hauptsstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 425, Nr. 223.
Schlecker, Roswitha: Theodor Wittgen (1883-1946). Hofheimer Lehrer und nassauischer Schriftsteller. Jahrbuch des Main-Taunus-Kreises 1994, S. 97-100.
Reuschling, Dieter: Vereine, die keiner mehr kennt. Die Folgen der „Gleichschaltung“ des Vereinslebens durch die Nazis. Jahrbuch des Main-Taunus-Kreises 2012, S. 15-20.
Bearbeitung: Historischer Arbeitskreis Hofheim am Taunus (Dieter Reuschling)