Theodor Wittgen (1883-1946) -
Hofheimer Lehrer und nassauischer Schriftsteller
Roswitha Schlecker
„Wo der Schwarzbach aus dem Taunus hin
zum blauen Maine fließt,
liegt ein Städtchen, meine Heimat.
Schönes Hofheim, sei gegrüßt!
Liegt ein Städtchen, meine Heimat,
schönes Hofheim, sei gegrüßt!“
So lautet der Text der ersten Strophe des Hofheim-Liedes von Theodor Wittgen, entstanden um 1930.
1913 wurde der Elementarlehrer Theodor Wittgen nach Hofheim am Taunus versetzt. Bis zu seinem Tod 1946 verband er diese Stadt und das Nassauer Land (seit 1866 preußische Provinz Hessen-Nassau) mit dem Begriff Heimat. Seine große Liebe galt der Schriftstellerei und sein Engagement dem Theater und der Volksbildung (1920 Mitbegründer und Vorsitzender des Hofheimer Volksbildungsvereines).
Während das „Hofheim-Lied“ noch heute über einen gewissen Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung verfügt, sind seine anderen Werke – bis auf wenige Ausnahmen – in Vergessenheit geraten. Theodor Wittgen arbeitete mit den unterschiedlichsten literarischen Gattungen. Er verfasste Bühnenstücke, sog. „Volksstücke“, für Laien aufführbar, Schülerspiele, Romane und Erzählungen, Novellen, Prosa, Märchen, Fabeln, Humoresken, Gedichte in Nassauer Mundart, Lieder – z.B. das „Hofheim-Lied“, das „Tauniden-Lied“, den „Wandergruß: Frisch Auf!“, und er schrieb über Brauchtum und Ereignisse aus der Heimatgeschichte.
In seiner Zeit war er vor allem durch seine Gedichte und Bühnenstücke, die unter anderem in der Turnhalle Vorwärts, Hofheim, zur Aufführung kamen, bekannt. Theodor Wittgen, schriftstellerisches Pseudonym „Fritz Jacob“, publizierte seine Werke im Selbstverlag. Gedichte, Novellen und heimatgeschichtliche Abhandlungen erschienen in regionalen Zeitschriften: Wiesbadener Tageblatt, Nassovia (ab 1911 bis ca. 1934) und Hofheimer Anzeiger (1920/21). Die Zeitschriften „Vogesenwacht“ 1917/18 und „1917 im Felde“ (kritische illustrierte Zeitschrift) veröffentlichten seine Soldatengedichte. Nach dem 1. Weltkrieg verfasste und sprach er Hörfunksendungen für den Frankfurter Rundfunk über Brauchtum in Nassau.
Am 13. Dezember 1883 wurde Theodor Wittgen in Weyer bei Runkel geboren. Um diesen Tag rankte sich bald eine Geschichte des Onkels Friedrich Wilhelm Wittgen (ebenfalls Lehrer und Schriftsteller): Er holte ihn aus dem Kringelsborn im Wiesengrund in Weyer bei Runkel; gerade ihn, weil er so gelacht hätte. Mit zwei Jahren war Theodor Wittgen Halbwaise, mit 13 Jahren Vollwaise. Die Großmutter und die Familienmitglieder übernahmen Fürsorge und Erziehung des Jungen. Im 14. Lebensjahr kam er nach Usingen in das dortige Lehrerseminar. Da Theodor Wittgen ausschließlich die heimatliche Mundart sprach, fiel es ihm sehr schwer, das in Usingen verlangte Hochdeutsch zu sprechen. In den Ferien, die er zu Hause in Weyer verbrachte, zog er sich zu Sprachübungen in den Taubenschlag zurück. In Usingen bestand er sein Examen als Lehrer und absolvierte direkt anschließend (1904/05) ein Jahr Militärzeit in Homburg vor der Höhe. Dieses Jahr hat ihn maßgeblich beeinflusst. In Tringenstein bei Dillenburg begann er seine pädagogische Berufstätigkeit. Dort heiratete er 1910 Margarethe Tenter, 1911 wurde seine Tochter geboren. 1913 erfolgte die Versetzung nach Hofheim am Taunus.
Bereits in Tringenstein interessierte sich Theodor Wittgen für die Geschichte Nassaus. Die ersten Veröffentlichungen erschienen unter anderem in der Zeitschrift „Nassovia“, Zeitschrift für nassauische Geschichte und Heimatkunde. Für die Altertumsblätter Herborn skizzierte er Land und Leute, Sitten und Gebräuche und schrieb den „Köhler von Tringenstein“, es folgte der „Inselkönig“. Dazwischen erschien das Bändchen „s Laad!“. Es folgten 7 Bändchen in Nassauer Mundart. Ab 1913 verfasste er vermehrt Prosa-Stücke und widmete sich der Volksbühne.
1914 erfolgte die Einberufung. Theodor Wittgen ging als Soldat nach Frankreich. Es entstand „Mit Landwehr 80“: Gedichte, Berichte und Skizzen aus seinen Kriegstagebüchern in hochdeutscher Sprache. Zuvor war bereits das Bändchen „Feldgrau 14/15“, Soldaten- und Feldzuggedichte in Nassauer Mundart, zum Teil veröffentlicht in der „Vogesenwacht“, erschienen. Über diesen ersten Band erfolgte eine Buchbesprechung in der Zeitschrift Nassovia (1917): „Es ist ihm (Wittgen, d.V.) doppelt anzurechnen, daß seine Schlager draußen im Schützengraben, den er als Leutnant tapfer besetzt hält, zur Welt gekommen sind, an und für sich schon ein gutes Zeichen für den Humor, der dort lebt“. In „Landwehr 80“ zeigte sich ein veränderter Wittgen. Betroffen nachdenklich, unter Anwendung eines feinen, hintergründigen Humors beschrieb er seine Erlebnisse aus vier Jahren Krieg – z.B. in dem Gedicht „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide …“, das im Thema die schlechte Versorgung der Soldaten mit Tabak aufgreift, aber inhaltlich gleichzeitig den geschwundenen Patriotismus: „Teuer bist du mir gewesen, Herrschaften ich bin genesen“ und die Profitgier derjenigen anprangert, die sogar am Tabak der Soldaten noch verdienen. Der Tod, Gott und die Natur – die Welt führt Krieg, die Natur schweigt – diese Dinge beschäftigten Theodor Wittgen im Angesichte des Todes vieler seiner Kameraden. In dem Gedicht „Mensch und Natur“ zieht er sein Resümee:
„O Mensch – gottähnlichst in Natur,
von edlem Anstand keine Spur.
Herrgott, bind doch das Maul ihm zu.
Gib Fried, regier bald wieder Du!“
Nach dem verlorenen Krieg, der ihn in seinem Stolz auf die Heimat nicht erschüttern konnte, kehrte Wittgen nach Hofheim zurück und nahm seine Arbeit als Volksschullehrer wieder auf. Er unterrichtete in den üblichen Fächern, d.h. Deutsch, Rechnen, Musik, Religion. Sein Hang zur Dialektdichtung und sein Humor, gepaart mit Verständnis, flossen in den Unterricht ein. 1928 erfolgte die Einweihung der neuen Hofheimer Volksschule, der Pestalozzi-Schule. Theodor Wittgen, ein Verehrer dieses Pädagogen, hatte an den Plänen dazu mitgearbeitet.
Wittgen versuchte seine Verbundenheit mit der Heimat in immer neuen Stücken auszudrücken. Heimatliebe war für ihn ein wichtiger Bestandteil seines Lebens. „Das Land war meine Heimat, ist auch der Boden aller meiner Literatur, und die Kampfansage gegen die städtische Kulturapostelei, die Landsitte und Brauch unterdrücken wollte, ist auf dem Heimattag in Weyer 1928 im „Sonnwend“, dem vieraktigen Festspiel, richtungsgebend der Gegenwart gesagt.“ Wittgen griff in diesem Spiel die Städter an, die auf das Land kamen, um Brauch und Sitte zu studieren, um dies dann als Tiefstand und Rückständigkeit der Dörfler zu verurteilen. Jene, die unter Kultur die eigene als allein wahre ansahen, im Gegensatz zu den Landbewohnern, die darunter Brauchtums- und Traditionspflege verstanden. Theodor Wittgen definierte den Begriff Heimat in dieser ländlichen Liebesgeschichte vor Sonnwend-Feuer und Dorfbrunnen als Quelle der Kraft, Ruhe und Geborgenheit. „Das sehe ich als Aufgabe der Heimatschriftsteller an, dass sie Prediger sind für die Leute der Heimat, ihre Kultur in ihrer Kraft erhalten helfen und in Abwehrstellung stehen den Einbrüchen gegenüber. Ich freue mich für meine Heimat und jeden, der eine Heimat erfühlt, …“ (Wittgen in Nassovia, 1934, zu seinem 50. Geburtstag).
Aus diesem Heimatbegriff heraus erhielt der Dialekt für Wittgen die Bedeutung der ersten Sprache, wie er in einem unveröffentlichten Aufsatz schreibt: „Man würde der Mundart in der Schule mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn man die Tatsächlichkeit mehr beachte, dass unser Hochdeutsch, in dem wir die zur Entlassung kommenden Schüler der Volksschule … soweit gefördert haben, dass sie … eine zweite Sprache ist.“ Im Erlernen des Hochdeutschen sieht Wittgen Parallelen zum Erlernen einer Fremdsprache. „Sprache steht mit dem Seelenleben in Einheit. Als wir mit dem 6. Jahre in die hochdeutsche Schule gingen, gerieten wir in den ersten Konflikt und wurden zu Stammlern und Stotterern. Unsere sprachlichen Ausbildungen liefen nebeneinander her. Und nach der Schulentlassung ward Dialekt wieder zur Umgangssprache, die mit der Zeit sich immer stärker dem Hochdeutsch angleicht, … Aber noch sprechen wir Dialekt, und daher ist ihm noch Rechnung zu tragen … Nun haben uns die Literaten es uns so lange vorgeredet, bis wir es selbst nachsprachen: Mundart ist nicht die Sprache der gebildeten Leute, und Mundart ist nur zu Scherzen und Späßen verwendbar. Hat Großmutter mit Großvater, als sie über die verwaisten Enkelkinder berieten, hochdeutsch gesprochen, oder mangels „Dürftigkeit“ des Dialektes schweigen müssen? Da Sprache und Gefühl eins sind, Gefühlsarmut bewiesen? Zu zweitens ist die Auswertung des Dialektes für Humor also nicht: „nur“, sondern: „besser als …“. Darum gilt es:
Newerm Humor beherrsche mir
de Ernst, su däif mersch nur vemag.
Un klingt es net des „Auch“ un „Ihr“
ganz traulich en de Moddersprach.
Ach, wer kaa richtig Achting hot
mie vier dem Klang vo Hamm und Herd,
mißachtlich driwer gäißt sein Spott,
der eß sei Haamet garnet wert.“
In seinen Gedichten blieb Theodor Wittgen der nassauischen Mundart seines Geburtsortes treu, in den anderen Arbeiten verwandte er die Umgangssprache seiner Region. Die Themen spiegelten immer, gleich welche Sprache, seine Heimatverbundenheit und sein Wissen um die Geschichte des Landes wider. Die einzige bisher bekannte Ausnahme stellte das um 1930 entstandene Hofheim-Lied dar. Hier ging er über regionale Grenzen hinaus und brachte erstmals nationale Gedanken mit ein:
2. Strophe:
Kampf mit Kelten und mit Römern
der Germane hier bestand,
daß die Heimat sei und bliebe
immerdar ein deutsches Land.
4. Strophe:
Friedlich ragt aus Eichenkronen
die Kapelle. Hoch im Sturm
wallen in den deutschen Farben
Fahnen von dem Meisterturm.
5. Strophe:
An dem Taunus liegt ein Städtchen,
Hofheim ist es, allbekannt.
Und ich kann kein schönres finden
in dem weiten Vaterland.
1939 fand die Gleichschaltung des Volksbildungsvereins mit der N.S. Kulturgemeinde statt. Im gleichen Jahr wurde Wittgen, über 50-jährig, zur Wehrmacht eingezogen, konnte jedoch 1941 wieder in den Schuldienst zurückkehren. Die Besetzung durch amerikanische Truppen (1945) beendete den Büchereibetrieb des Volksbildungsvereins. Die Wiedereröffnung blieb aus, da in der Zwischenzeit der Raum gekündigt worden war. Mit Hilfe seiner Schüler brachte Theodor Wittgen die Bücher in das Kellerei-Gebäude. Der Erhalt einer Volksbücherei war ihm äußerst wichtig. Den Stellenwert von Bildung und Heimat verdeutlichte Theodor Wittgen mit dem Satz: „Nicht der ist in der Welt verwaist, dessen Vater und Mutter gestorben, sondern der, der für Herz und Geist keine Liebe und kein Wissen erworben.“ – Theodor Wittgen starb am 15.10.1946.
Der Bericht wurde in „Zwischen Main und Taunus – Jahrbuch des Main-Taunus-Kreises, 1994, 2. Jahrgang, Seite 97-100“ veröffentlicht. Mit freundlicher Genehmigung des Main-Taunus-Kreises und der Autorin erfolgt diese Präsentation.
Bearbeitung: Historischer Arbeitskreis Hofheim am Taunus (Wilfried Wohmann)